Maria, Mord und Mandelplätzchen
paar schwarze Sachen geholt, habe mich auf dem Klo im leeren Restaurant gewaschen und konnte mich in den Turm reinschmuggeln.
So etwas wie dort hatte ich noch nie gesehen. Jedenfalls konnte ich mich nicht erinnern. In dem zuckenden blauen Licht tanzten die Leute zu düsterer, stampfender Musik. Sie trugen Kleidung aus Leder und Plastik und anderen Materialien, deren Namen mir nicht einfallen. Manche trugen sogar Masken aus Gummi, ich glaube jedenfalls, es war Gummi. Wer keine Maske trug, war stark geschminkt, dunkle Lippen, schwarze Ränder um die Augen, manche hatten sich Muster ins Gesicht gemalt, Männer wie Frauen. Sie bewegten sich so rhythmisch und harmonisch, als wären sie alle miteinander verbunden. Aber wirklich interessant war das, was sich in den kleinen Turmzimmern abspielte, die man erreichte, wenn man die Wendeltreppe hinaufging. Dort hatte jeder mit jedem Sex. Männer, Frauen, manche schienen beides zu sein, oder keins von beidem. Sie quälten sich mit heißem Kerzenwachs, mit Peitschen, mit brennenden Zigaretten, sie genossen es und riefen nach mehr, sie sahen mich und wollten mich dabeihaben. Aber ich fühlte mich als das, was ich war, eine Zuschauerin, seltsam gelöst von der Welt, die sich mir bot. Ich war nicht schockiert oder bestürzt, ich hatte nur tief in mir ein Gefühl, das sich regte, und das Gefühl hatte etwas mit Verstehen zu tun. Ich sah die Frau, deren blinder Passagier ich geworden war, wie sie sich von drei anderen Frauen und einem Mann beherrschen ließ, sah, wie sich spitze Absätze in die weiße, makellose Haut auf ihrem Rücken bohrten, hörte, wie sie lustvoll schrie. Ich sah die Drogen, die man sich gegenseitig gab, ich sah den Exzess, und je mehr ich sah, desto mehr verstand ich.
Heute schneit es besonders stark.
21 . 12 . 11
Ich habe nicht geschlafen.
Ich war nicht wieder mit ihr in dem Turm, ich habe genug gesehen. Ich weiß jetzt, dass sie nie schläft, so wie ich, und ich weiß endlich auch, was sie tagsüber macht. Diesmal habe ich mich morgens in ihr Auto geschmuggelt. Sie fuhr zur Alster in das Parkhaus einer sehr eleganten, sehr alten Hamburger Privatbank. Wieder hatte ich das Gefühl, etwas wiederzuerkennen, ohne zu wissen, was es war und warum ich es wiedererkannte. Ich ärgerte mich. Ich hatte fast zwei Jahre lang meinen Standort am Gänsemarkt gehabt. Nur ein paar hundert Meter entfernt! Meine Erinnerung wäre vielleicht schon längst zurückgekommen, wenn ich früher schon dort gewesen wäre. Wer weiß, wen ich noch alles wiedererkannt hätte. Oder wer mich erkannt hätte. Ich ging zurück in das Parkhaus und sah mich um. Der Parkplatz, auf dem sie stand, hatte ein »Reserviert«-Schild. Darunter stand ein Name: Dr. D. König. DK waren auch die Initialen an ihrem Klingelschild in der Reichskanzlerstraße.
Ich nahm all meinen Mut zusammen und ging zur Rezeption der eleganten Bank. »Frau Dr. König arbeitet doch hier?«, fragte ich die Empfangsdame. »Frau Dr. König ist heute
leider
den ganzen Tag unabkömmlich. Kann ich etwas für Sie tun?«, sagte sie, doch ihr Blick ließ mich verstehen, was sie wirklich meinte:
Verlassen Sie augenblicklich das Gebäude, Sie vertreiben unsere Kundschaft!
Ich wollte gerade gehen, als ich mich sagen hörte: »Sie ist Ihre beste Brokerin, nicht wahr?« Die Empfangsdame lächelte kühl. »Ja«, sagte sie knapp und wandte sich wieder ihrem Computerbildschirm zu.
Es hat aufgehört zu schneien.
22 . 12 . 11
Ich habe eine Stunde geschlafen.
Es ist das erste Mal, seit ich aus dem künstlichen Koma erwacht bin, dass ich so lange am Stück schlafen konnte. Kalle sagt, er sei stolz auf mich. »Wenn du mehr schläfst, erinnerst du dich auch an mehr. Dein Gehirn muss sich mal ausruhen.« Ja, wenn. Wenn es nur so einfach wäre. Er sagt auch, ich solle mich von der Frau fernhalten. »Kein guter Umgang. Weder da, wo sie sich nachts rumtreibt, noch da, wo sie ihr Geld verdient. Ein Haufen verlogener als der andere.« Ich frage: »Du findest die Leute im Turm verlogen? Sie leben sich doch vollkommen aus!« Kalle schüttelt den Kopf. »Nachts, wenn es keiner sieht. Und tagsüber tragen sie ihre Anzüge und machen auf sauber und adrett und lügen ihre Partner und ihre Freunde an, weil die nicht wissen dürfen, was sie nachts tun. Glaub mir, ein Haufen verlogener als der andere.«
Es schneit jetzt nur noch tagsüber. Nachts ist es ruhig.
23 . 12 . 11
Ich habe nicht geschlafen.
Ich weiß, ich habe Kalle versprochen,
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