Maria, Mord und Mandelplätzchen
ich wieder etwas Hoffnung schöpfte. Heißt es nicht, böse Menschen haben keine Lieder? Beinahe zwei Stunden lang beschränkten sich die Soldaten darauf, mich wie ein Hündchen von Schoß zu Schoß zu reichen und zu betatschen. Leerten nebenbei ihre Wodkagläser, die Adrian, der sich inzwischen angezogen hatte, ebenso hastig wieder auffüllte, bis sie schließlich ihre Gläser über die Schulter warfen und direkt aus der Flasche tranken. Sie lachten dabei und küssten mich, eine absurde Parodie familiärer Innigkeit. Und dann, urplötzlich, hatte der Kleinere von beiden die Nase voll. Sprang auf und packte mich von hinten – auch sein Kamerad war nicht mehr zu halten und taumelte auf mich zu, während er mühsam seine Hose aufknöpfte.
Ich schrie. War nur noch Entsetzen. Und für einen Augenblick glaubte ich auch in Adrians Augen Panik zu erkennen, nicht nur diese grausame Entschlossenheit. Dann schlug er mir mit der Hand ins Gesicht.
Ruhig!,
befahl er und sprach wieder auf die Soldaten ein, mit einer fremden, harten Stimme. Und was er sagte, schien zu wirken. Mit einem dümmlichen, erwartungsvollen Grinsen hockten sich die Russen wieder an den Tisch und widmeten sich erneut ihren Wodkaflaschen.«
»Und Adrian?«, flüstert Aurelia.
»
Ich hab gesagt, ich habe für dich bezahlt, deshalb will ich auch der Erste sein. Das akzeptieren sie, und es ist unsere einzige Chance. Spiel mit und bete, dass sie sich vor Vorfreude ins Koma trinken,
sagte er und zerrte mich zu unserer Decke. Durfte ich ihm glauben? Hatte ich eine Wahl?«
Mette hebt ihr Glas und dreht es in ihren schönen, kräftigen Händen. »Also haben wir uns noch einmal geliebt in dieser Nacht. Aber was heißt schon Liebe. Unsere Körper vollführten die Bewegungen noch einmal, emotionslos und hochkonzentriert diesmal, wie Artisten bei einem Pas de deux.«
Mette summt ein paar Takte von
Fröhliche Weihnacht überall.
»Das Lied hat den Russen besonders gefallen. Sie haben es gesungen, während Adrian und ich auf der roten Samtdecke verzweifelt versuchten, Zeit zu schinden. Und tatsächlich haben wir Glück gehabt. Der Kleinere ist zuerst weggedämmert, der Große hat noch auf seinem Recht bestanden, ist aber in meinen Armen selig eingeschlummert, bevor er ernsthaft etwas ausrichten konnte.
Wir haben sie dort liegen lassen. Das Feuer gelöscht, unsere Sachen gepackt, bis auf die Wodkaflaschen.« Sie schaudert. »Eiskalt und gespenstisch sah das aus, als wir die Kate verließen. Zwei betrunkene Kerle im bläulichen Licht der Morgendämmerung zusammengesunken vor einem erloschenen Feuer. Genau so hat man sie zwei Tage später gefunden. Erfroren. Mausetot.«
Mette hebt ihr Glas und prostet uns zu. »Ich habe Adrian nie wiedergesehen, aber gleich nach der Wende musste ich diese Kate kaufen. Ich fand, das wäre ich dem denkwürdigen Weihnachtsfest schuldig, das ich darin verbracht habe. Und wer weiß, vielleicht kommt auch Adrian eines Tages hierher zurück.«
»Ihr habt die Russen umgebracht! Ihr hättet das Feuer nicht löschen dürfen«, sagt Aurelia leise. »Wie hast du vorhin zu mir gesagt:
Eine Mörderin ist unter uns.
«
Einen Moment lang sieht Mette verletzt aus, dann legt sie den Kopf in den Nacken und lacht.
»Aber liebe Aurelia, natürlich haben wir das Feuer brennen lassen, und die Soldaten sind auch nicht gestorben. Nur einen fürchterlichen Kater hatten sie und die Erinnerung an einen sehr erotischen Traum. Ja, glaubt ihr denn, ich hätte die Kate gekauft, wenn es anders wäre?«
»Trinken wir auf die Liebe!«, ruft Mette später, als wir noch mehr Sekt getrunken und noch mehr Geschichten erzählt haben, die wahr sein könnten oder auch nicht. Bereitwillig prosten wir ihr zu. Undenkbar, dass Mette, die lebensfrohe Mette, uns in dieser Weihnachtsnacht einen Mord gestanden hat.
Im ersten Morgengrauen trete ich ans Fenster meiner Dachkammer. Täusche ich mich, oder verschmilzt eine dunkle Gestalt mit langem Haar soeben mit der Silhouette des Stalls? Ich stehe und warte. Und während die Dämmerung bläulichviolett über die Schneewehen kriecht, flackern im Fenster zum Meer zwei rote Grablichter auf.
Autorenvita
Gisa Klönne, 1964 geboren, studierte Anglistik, war Journalistin und lebt heute als Schriftstellerin in Köln. Ihre von Lesern und Presse gleichermaßen gefeierte Erfolgsserie um Kommissarin Judith Krieger wurde in mehrere Sprachen übersetzt. 2009 erhielt Gisa Klönne den Friedrich-Glauser-Preis in der Sparte bester Kriminalroman,
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