Maria sucht Josef - Eine weihnachtliche Liebesgeschichte
beim Stimmen seiner Gitarre nachgegangen war, während sich Miriam damit beschäftigt hatte, den Stapel Noten durchzusehen. Sie hält ihm ein Blatt entgegen, und Joe bemerkt ihre Anspannung. Auch Miriam fühlt sich in der kalten Kirche alles andere als wohl. Sie ist mindestens so nervös wie er. Joe sieht sich das Notenblatt an und nickt.
»Ja, des is unser Klassiker. Den spiel’ ma jedes Weihnachten. Manchmal singen es die Kinder im Chor, oft auch nur a Solistin mit Begleitung … Aber wir könnten auch im Duett …«
Miriam erkennt in der Gitarre, auf der Joe das uralte Lied sanft anspielt, das Instrument auf dem Hochzeitsfoto. Mit einem Mal friert sie so sehr, dass zu ihren bläulichen Lippen eine unübersehbare Gänsehaut auf ihren Unterarmen kommt. Joe bemerkt, dass Miriam viel zu wenig anhat.
»Wo hast denn du deine Stulpen?«
»Meine was?«
»Die Stulpen für die Handgelenke. Meine Mutter hat dir sicherlich welche hingelegt. Wie willst denn in der eisigen Kirche gescheit singen, wenn du so frierst?«
Kurz denkt Miriam über den Kleiderhaufen nach, durch den sie sich an diesem Morgen vor dem Kirchgang gearbeitet hat, und plötzlich weiß sie, was er meint.
»Ach so, die Stulpen! So gestrickte Teile ohne Fuß? Meinst du vielleicht die da?«
Miriam streckt dem Cowboy eines ihrer Beine entgegen und zieht den Rock ein wenig hoch. Joe muss grinsen.
»Des gehört fei anders. Die müssen an die Unterarme und net an die Füaß!«
Miriam seufzt und zeigt kopfschüttelnd auf ihren Bauch, der ihr selber kaum erlaubt, sich ihre Füße anzusehen, geschweige denn mal schnell diese Stulpen abzunehmen.
»An diesen Stulpen hat Anna-Sophie ganz schön ziehen und zerren müssen, bis sie die an meinen Waden dran hatte!«
Der Cowboy hat bereits seine Gitarre zur Seite gestellt und ist von seinem Stuhl aufgestanden.
»Her damit!«
Seine blitzenden Augen dulden keinen Widerstand, als er kurz darauf zum dritten Mal vor ihr kniet und sich mit den gestrickten Schläuchen mit dem Zopfmuster abmüht, die partout nicht über die Schnürstiefel passen wollen, die Hilla für Miriam organisiert hat. Miriam beobachtet Joe. Kommt es ihr nur so vor, oder zittern seine Hände, als er ihren Stiefel wieder zuschnürt? Sie verspürt den Wunsch, den vor ihr knienden Cowboy an beiden Ohren zu fassen, um ihn zu zwingen, in ihr Gesicht zu sehen. Sie will wissen, was er wirklich fühlt. Aber natürlich fehlt ihr wieder einmal der Mut. Stocksteif sitzt sie da und sagt kein Wort. Joe ist beim zweiten Stiefel angelangt. Vorsichtig berühren seine Fingerspitzen eine Schwellung an ihrem Knöchel.
»Tut das weh?«
Ja, antwortet Miriam automatisch, meint dabei aber nicht den Fuß, sondern einen ganz anderen Schmerz, fast so alt wie Miriam selbst. An ihren Vater muss sie denken, der ihr so oft die Schuhe gebunden hat, als sie noch ein kleines Mädchen war, und plötzlich ist ihr Hals wie zugeschnürt, während Joe beginnt, mit sanfter Stimme zu singen.
Es wird scho glei dumpa, es wird jo scho Nacht.
Drum kimm i zu dir her, mein Heiland auf d’ Wacht.
Will singa a Liadl, dem Liebling, dem kloan.
Du magst ja net schlafen, i hör di nur woan.
Hei, hei, hei, hei, schlaf süaß, he-erzliabs Kind.
Hei, hei …
Schon nach der ersten Liedzeile bekommt Miriam keinen Ton mehr heraus, denn viel lieber will sie dem Cowboy zuhören, da jedes seiner gesungenen Worte aus einer anderen Welt als der ihren zu kommen scheint. In seiner Männerstimme schwingt eine Zärtlichkeit mit, die den Kindern dieser Welt gehört. Fast körperlich spürt sie Joes Hand, mit der er seine Gitarre liebkost, auf ihrem Bauch. Doch Miriam nimmt noch mehr wahr. Joe liebt immer noch seine verstorbene Frau. Rosemaries Augen auf dem Hochzeitsfoto sieht Miriam vor sich und stellt sich vor, wie Joe mit Rosemarie barfuß in den See gelaufen ist, um unter Wasser heimliche Berührungen auszutauschen. Miriam sieht Nächte vor sich, in denen der Cowboy mit seiner Frau unter dicken Federbetten zu den Sternen geflogen ist. All das hört sie in seiner Stimme und sieht an seinen geschlossenen Augen, wie glücklich er an diesem Ort ist, wo er bei seiner Rosemarie und ihrem Kind sein kann. Auch Joe hat sein Shambala. Es ist ein Zaun drum herum, und auf jeder einzelnen Zaunlatte steht Zutritt verboten .
Joe hat die erste Strophe beendet und sieht Miriam mit der Art von Lächeln an, das man Kindern schenkt, die etwas länger als die anderen brauchen, um zu wissen, wie man die Toilette spült.
Weitere Kostenlose Bücher