Maria sucht Josef - Eine weihnachtliche Liebesgeschichte
unerreichbare Utopie, denn es fehlen das Geld und die legale Form, aber diese Familie ist Miriams Ziel, und dafür wird sie kämpfen mit allem, was sie hat. Wanda sieht Miriam kopfschüttelnd an.
»Wollen Sie nicht, oder können Sie nicht?«
»Was?«
»Sagen Sie doch einfach, was Sie sich wirklich wünschen. Da ist doch noch jemand …?«
Schweigen. Miriam will es nicht aussprechen, weil sie nicht daran glaubt und es auch nicht wirklich für möglich hält. Wanda hat Geduld. Sie hört inzwischen Miriams prallen Bauch mit ihrem altmodischen Holzrohr ab. Miriam sucht noch das Wort, fürchtet sich ein wenig davor, prüft es aber dann mit fest geschlossenen Augen. Sehr leise kommt es schließlich aus ihr heraus, wie ein Geheimnis, fast zu schön, um ihr wirklich zu gehören.
»Familie. Meine Familie sind ich und die drei Kinder. Und ganz vielleicht … aber wirklich nur ganz vielleicht wird da auch einmal ein Mann und ein Vater sein.«
Wandas Antwort ist trocken und kurz. Sie weiß inzwischen, wo Miriams inneres Problem liegt.
»Sie sind Scheidungskind, nicht wahr?«
Nach Miriams Nicken interessieren Wanda nur noch die praktischen Dinge. Wo die anderen Kinder sein werden, wenn Miriam zu Hause entbindet. Wer sie die ersten Tage nach der Geburt versorgen wird und womit sie Windeln, Essen und Kleidung für das Baby und die Kinder bezahlen wird, wenn sie doch im Moment schon gar kein Geld mehr hat. Keine Antwort. Keinerlei Plan.
Wieder legt Wanda ihre Hand an Miriams Fuß. Sie bittet diesmal um geschlossene Augen und eine sehr tiefe Atmung. Weitere Antworten hofft Wanda jetzt in Miriams Innerem zu finden. Das Pressen der entsprechenden Punkte an der Fußsohle wirkt manchmal Wunder.
Tatsächlich sinkt Miriam durch die tiefe Atmung und die Massage bald in eine Art Trance. Sie sieht sich mit dem Rücken an der Wand in einer Sackgasse stehen, rechts und links türmen sich Häuser ohne Fenster in einen bedrohlich grauen Himmel, unter ihr öffnet sich ein Abgrund mit schwarzem, klebrigem Asphalt. Miriam krallt ihre Zehen in Wandas Hand. Sie will Wanda mitteilen, was sie erlebt, ist aber kaum fähig zu sprechen. Wanda zwingt sie sanft zum Erzählen, mit kontinuierlich wandernden Zauberfingern an den richtigen Stellen am Fußballen, aber auch mit fortwährenden Ermutigungen. Wenn es dem Baby nützen soll, muss heraus, was im Inneren ist.
Miriam beginnt, unkontrolliert zu reden, wobei ihre Worte in ihrem Ohr ein schmerzhaftes Echo produzieren. Sie redet von ihrem Albtraum, der nach dem tödlichen Unfall begonnen hat. Sie sieht endlosen Asphalt mit vorbeidonnernden Lastwagen, die zehnspurig den Weg zu einer grünen Wiese versperren, die Miriam mit den Kindern erreichen muss. Aus Miriam bricht hilflose Wut.
»Ich schaff es nicht! Ich weiß nicht, wie ich mit den Kindern über diese verdammte Autobahn komme, ohne zermalmt zu werden!«
Malmen, zerschmettern, zerfetzen. Da sind sie wieder, die Worte des jungen Polizeibeamten, als er ihr mitten in der Nacht den Hergang des Unfalls viel zu gründlich geschildert hat, weil diese nächste Angehörige einfach nicht verstehen wollte, was geschehen war. Als ob es um ein Wollen ging. Miriam hatte keinen Willen mehr zu dem Zeitpunkt und konnte auch nicht verstehen, weil es nach dem Schock nichts zu verstehen gab. Carola war für Miriam noch am Leben und würde es immer sein. Der Beamte mit den zarten Schweißperlen auf der Oberlippe wurde noch deutlicher in der Beschreibung. Es war sein erstes Mal. Seine ältere Kollegin, die viel lieber schon zu Hause bei ihren Kindern gewesen wäre und diese schwierige Aufgabe gerne einem Jüngeren überließ, war durch ihr Handy abgelenkt.
Der detaillierte Unfallbericht in den schwammigen Fingern des angespannten jungen Polizisten erschuf präzise Bilder, die sich in Miriam festgefressen haben wie Säure.
Auf dem Glatteis nach einer Autobahnbrücke war der Laster von der rechten auf die mittlere Spur gerutscht. Er hatte den Wagen zunächst nur mit sich gezogen. Doch da der Schwung durch die Hebelwirkung des Anhängers enorm, das Eis sehr glatt und die Profile an den Reifen des Lasters nicht mehr ganz neu gewesen waren, hatten der Laster und sein schwerer Anhänger den Kleinwagen in die Zange genommen. Wie eine riesige Schere müsse Miriam sich den Laster mit seinem Anhänger vorstellen, die sich langsam, aber unaufhörlich um den Kleinwagen schließt. Schließen, Quetschen. Eine Rekonstruktion der beiden Körper war nicht möglich. Trotzdem wird
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