Maria sucht Josef - Eine weihnachtliche Liebesgeschichte
merkwürdige Art verschlossen. Nie liegen sie als Neugeborene mit einem offenen, suchenden Herzen da, sondern krümmen sich von Anfang an, trinken oft schnell und gierig und weinen viel. Es gibt nichts, was Wanda für sie tun kann.
Das aufgeregte kleine Mädchen in dem Bauch der verzweifelten Sächsin hingegen hat eine wundervolle Zukunft vor sich. Das weiß die Hebamme jetzt schon. Es kommt in Wanda eine Freude auf, die ihr als kribbelnde Wärme bis hoch in ihren Kopf schießt. Es ist ein ungewöhnlich schönes Kind!
Die Hebamme erzählt Miriam danach mit warmen Worten von ihrer kleinen Tochter, die auf die Welt kommen will, um bei Miriam zu sein. Ihren Bericht über den Gesundheitszustand des Babys schließt Wanda mit einem tiefen zufriedenen Seufzer ab.
»Du hast Liebe verloren, und du sollst Liebe bekommen, so lautet die Nachricht deiner Kleinen im Bauch.«
In Miriam lösen diese Worte erneut eine Welle von Schluchzern aus, aber diesmal vor Erleichterung. Sie wird ein Mädchen zur Welt bringen, und irgendwie wird es so sein, als würde ihre Schwester Carola wieder bei ihr sein, nicht wahr? Wanda lässt sich von dieser eigenartigen Version des Widergeburtsgedankens nicht von ihrem weiteren Tun ablenken. Aber sie zieht erstaunt die Augenbrauen hoch und nimmt sich Miriams Kopf vor. Über dem Scheitel macht sie gezielte Bewegungen und murmelt dabei leise ihre Worte, die schon so vielen Menschen geholfen haben. Maria, hilf diesem deinem Kind durch deine Gnade. Feine innere Lichtfäden, durch den Unfall der Schwester durchtrennt, müssen dringend verwoben werden, denn es fehlt einiges bei dieser werdenden Mutter. Mit der Geschicklichkeit einer erfahrenen Klavierspielerin spielt Wanda über Miriams Scheitel ein energetisches Solo, das zum Duett und schließlich zum Quartett wird. Miriam hat es ihr ja gezeigt. Bene, Anna-Sophie, Miriam und die kleine Erdfee beginnen ihren ganz eigenen Reigen zu tanzen. Aber da sind tatsächlich noch mehr energetische Wesen. Wanda fühlt Wassili und Carola tatsächlich noch überaus lebendig in Miriams Peripherie. Und dann ist da noch jemand. In den letzten Stunden muss etwas geschehen sein, denn da steht ein Mann, voller Energie, nah an Miriams innerem Kreis.
»Du bist nicht allein. Gibt es einen Mann?«
»Nein!«
Aber mit einem Mal überschwemmt Miriam eine Woge warmer Zimt. Weit weg von der Unfallstelle und ihren Problemen lenkt Wandas Stimme sie in die Gegenwart zurück. Miriam befindet sich jetzt in einer warmen Höhle, die nach Zimt riecht. Nackte Füße auf weichem Torf erforschen unbekanntes Terrain. Zehen, die sich eingraben in warme Erdfarben und wie von alleine einem dunklen Gang folgen, fühlen sich merkwürdig real an.
»Wo bin ich?«
Miriam versucht ihre Augen zu öffnen, aber eine merkwürdige Schwere liegt über ihren Lidern.
»Egal. Nicht fragen. Geh einfach weiter!«
Wandas warme Stimme lenkt Miriam weg von ihren letzten Schluchzern, weg von der klebrigen Lache Pech und immer weiter, bis nur noch ein schwaches Seufzen übrig ist. Hier lebt etwas anderes als Schock und Selbstmitleid. Miriam sieht eine Königin in einem Saal aus Licht. Als sie genauer hinsieht, lockt ganz hinten in dem Saal eine Tür, zu der Miriam sich jetzt immer stärker hingezogen fühlt.
»Öffne die Tür!«
Miriam legt ihre Hand auf die Klinke und öffnet die Tür einen winzigen Spalt. Sofort verwandelt sich der Saal aus Licht zurück in die zehnspurige Autobahn. An Miriams Händen hängen wie zwei Gewichte Anna-Sophie und Bene, die sich voller Angst an sie klammern. Die Laster donnern an ihnen vorbei. Und dennoch hat sich etwas verändert. Miriams linker Arm ist durchströmt von kribbelnder Wärme. Wie von allein geht ihre Hand nach oben, bis sie mit einer grazilen Königsgeste dem Verkehr Einhalt gebietet. Reifen quietschen. Staub wirbelt, aber alle Raser halten an. Stille kehrt ein.
Miriam schreitet mit ihren Kindern majestätisch über den zehnspurigen Asphalt. Es ist ein großartiges Gefühl, so langsam zu schreiten. Die Laster sind keine bedrohlichen Todesbringer mehr, und Miriam ist ganz ohne Angst. Sie spürt, dass ein Geschenk auf sie wartet. Tatsächlich, mitten auf der Autobahn wölbt sich der Asphalt. Er bekommt kleine Risse. Eine Knolle, bräunlich und unscheinbar, schiebt ihre fasrigen Arme durch den schwarzen Teer. Wie im Zeitraffer dreht und wendet sich das zähe Pflänzchen, bis es seinen Platz gefunden hat. Dann erst schiebt sich der Stiel nach oben, und die weiße
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