Maria sucht Josef - Eine weihnachtliche Liebesgeschichte
Form der Befriedigung, denn die echte Liebe zwischen Mann und Frau existiert für Joe schon lange nicht mehr. Jede Frau hat zu Recht ein Fragezeichen im Auge, wenn sie einem Singlemann von über vierzig begegnet. Joes konsequente Enthaltsamkeit wäre die einzige Antwort auf sein Dilemma, wenn er wirklich darüber nachdenkt. Aber im Moment kann er nicht weiterdenken, denn er ist zu gefesselt von dem, was Miriam hinter der hölzernen Tür in der Küche seiner Eltern gerade macht. Wenn es nicht Wehen sind, was ist es dann? Die gepresste Schwere ihres Atems erinnert ihn unwillkürlich an damals, und er schließt die Augen, um dem plötzlichen Schmerz Herr zu werden. Doch die Erinnerung an Joes Versagen ist bereits wachgekitzelt, und die alten Geister stehen auf. Er sieht Rosemarie in dieser Küche auf und ab gehen, ihre Hände im Kreuz, um ihrem schweren Bauch ein Gegengewicht zu bieten, während Joe den Wagen holt, um sie zur Entbindung in die Klinik zu fahren. War es Miriams Absicht, ihn noch einmal an diese Schwelle zu führen, die der Anfang seines Abstiegs in die Unterwelt war? Nie wird Joe das gequälte Lächeln in Rosemaries Gesicht vergessen, als sie wenige Stunden vor ihrem Tod noch versucht hat, einen Scherz darüber zu machen. Ja, es war eine unglaublich schöne Nacht gewesen, als er mit Rosemarie das Kind gezeugt hat, aber im Nachhinein hätte Joe alles dafür gegeben, wenn es diese Nacht nie gegeben hätte.
Der Junge sitzt auf der Treppe in dem uralten Bauernhaus von Joes Eltern und beobachtet fasziniert, wie der Cowboy durch den Spalt in der Küchentür seine Tante beobachtet. Bene hatte bei Miriams Frage nach dem Sex tatsächlich die Ohren gespitzt und nicht geschlafen. Auf Mollys roter Rückbank hatte er mit klopfendem Herzen auf Worte gewartet, die ihm das Geheimnis näherbringen. Der Zusammenhang von Sex und Babys ist schon lange klar. Aber wie soll das mit dem Sex gehen, wenn eine Frau so dick wie Miriam ist? Wie soll da noch irgendetwas reinpassen, in diesen riesigen geschwollenen Leib? Und wenn doch, eine Vorstellung, die Bene wirklich eklig findet, wie geht es dem kleinen Mädchen im Bauch dabei? Würde es seekrank werden? Würde es Angst bekommen, wenn ein schwerer Mann sich auf die Mutter legt? Obwohl der Cowboy das Gespräch über Sex im Taxi abgewürgt hatte, war eine seltsame knisternde Spannung übrig geblieben. Wie eine Wolke hatte sich ein Gefühl im Wageninneren ausgedehnt, das Bene beunruhigt hat. Das Schweigen auf der nächtlichen Autobahn war von Flüsterstimmen erfüllt, die aus dem Heizungsgebläse und dem Motor zu Bene gesprochen haben. Es waren warnende Stimmen, weinerlich und auch ein wenig ängstlich. Eine davon hatte Bene in aller Dringlichkeit dazu geraten, gut auf seine Tante aufzupassen. Die Stimme hatte ihn an seine Mutter erinnert. Vor allem deswegen kauert Bene in diesem Moment auf dem fremden Treppenabsatz aus uraltem Holz. Er beobachtet, wie der Cowboy seine Tante beobachtet. Bene traut sich kaum zu atmen, denn er will nicht entdeckt werden. Das Holz der alten Treppe glänzt, hat dunkle Astlöcher und Adern wie ein lebendiges Wesen. Mit seinen Fingern fährt er die gebohnerten dunklen Rillen im Holz nach, fein nach Bienenwachs duftend. Der Bauernhof ist mehrere Hundert Jahre alt, wie Joe ihm vorhin erklärt hat. Joes Eltern hatten sich Mühe gegeben, herzlich und nett zu den Kindern zu sein, als das Taxi kurz nach Mitternacht auf dem einsam gelegenen Hof ankam. Ernst und Hilla erinnerten Bene an Großeltern aus einem Märchenbuch, aber trotzdem waren sie ihm unheimlich. Nach der endlos scheinenden Fahrt waren sie in einem einsam gelegenen Nirgendwo gelandet, wo es keine anderen Häuser gab. Der Stadlerhof ist ein Einödhof, hatte Bene von Joes Vater gelernt und brav gelächelt. Aber insgeheim war er dem Cowboy böse. Er hätte ihn vorwarnen können. Es ist unheimlich, an einem Ort zu sein, wo man rundherum nichts hört. Von der Autobahn war Molly in immer kleinere, bisweilen pechfinstere Straßen eingebogen, bis sie vier Dörfer mit weihnachtlicher Lichterdekoration durchquert hatten. Dann war der Cowboy an einer Kurve kurz ins Schleudern gekommen, und zwar bei Miriams Wort Cunnilingus. Mit dem Wort, was auch immer es heißt, hatte das Thema Sex seinen endgültigen Abschluss gefunden. Joes Stimme hatte zu diesem Zeitpunkt irritiert geklungen. Er hatte auf Bayerisch gesagt, dass es jetzt reichen würde. Miriam hatte gelächelt und geschwiegen. Bene war sich relativ sicher,
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