Mariana: Roman (German Edition)
Durchschaubarkeit machte mich verlegen. »Ich fürchte nichts, Mylord«, gab ich zurück, »als daß ich mich langweilen könnte während Eurer Abwesenheit.«
»Die Antwort eines Diplomaten«, lobte er mich lächelnd. »Nun gut, dann überlasse ich Euch die Verwaltung meiner Bibliothek, solange ich weg bin. Damit Ihr nicht unter Langeweile zu leiden habt.« Er griff in seine Jackentasche und zog einen Schlüssel hervor, den er mir hinhielt. »Dieser Schlüssel öffnet die Pforte zu dem Innenhof auf der Westseite des Hauses. Von dort könnt Ihr in die Bibliothek gelangen, wann immer Ihr es wünscht.«
»Ich kann Euren Schlüssel nicht annehmen«, protestierte ich.
»Warum nicht?«
Ich suchte nach einer Ausrede. »Ich weiß nicht, wo ich ihn aufbewahren soll«, sagte ich, »so daß er nicht entdeckt wird.«
»Dann versteckt ihn hier«, sagte er, indem er das Problem ohne weiteres löste. Er beugte sich vor, so daß sein Arm den meinen streifte, und ließ den Schlüssel in eine der leeren Nisthöhlen gleiten. »Er ist in der Höhle mit der zerbrochenen Sitzstange, seht Ihr. So werdet Ihr keine Schwierigkeit haben, ihn wiederzufinden, wenn Ihr ihn braucht.« Er richtete sich auf, wich aber nicht zurück. Die Luft zwischen uns wurde schwül. »Bleibt nur noch die Frage Eurer Strafe zu klären«, sagte er mit tiefer, sinnlicher Stimme.
»Meiner Strafe?«
»Dafür, daß Ihr eine meiner Tauben stehlen wolltet«, erinnerte er mich.
»Ich habe diesen Vogel nicht gestohlen, Mylord«, sagte ich gelassen, »und außerdem hatte ich angenommen, daß der Taubenschlag meinem Onkel gehöre.«
»Euer Onkel benutzt ihn, das steht fest, aber er wurde von meinen Vorfahren gebaut und steht auf meinem Land. Mein Eigentum daran steht außer Frage.«
Ich versuchte, einen Widerspruch zu äußern, aber er drängte sich nur näher an mich und schüttelte den Kopf. »Es hat keinen Sinn, das Verbrechen zu leugnen«, beschied er mir, »zumal Ihr den Beweis noch in der Hand haltet. Das ist eindeutiger Diebstahl; und ich habe das Recht, eine Strafe zu verhängen.«
Er hielt mich fest unter seinem Kuß, seine Finger glitten unter mein Haar und stützten meinen zurückgebogenen Nacken. Als er den Kopf hob, raste mein Herz mit derselben Geschwindigkeit wie das des Vogels, den ich immer noch gegen meine Brust gedrückt hielt. Ich hatte gute Lust, noch ein Dutzend weiterer Tauben auszuwählen, wenn er mir für jede dieselbe Strafe versprechen würde, aber ich wagte nicht, ihm das zu sagen.
Er las meinen Gedanken auch so. »Wollt Ihr noch einen Vogel nehmen?« fragte er grinsend.
»Ich kann noch nicht einmal den töten, den ich hier habe«, sagte ich kopfschüttelnd. »Mein Onkel hat mich zur Strafe hierher geschickt. Er wußte, daß ich es nicht fertigbringen würde.«
Das Grinsen verschwand. »Und was habt Ihr getan, um eine Bestrafung zu verdienen?«
»Ich habe seine Frau verteidigt«, antwortete ich ohne Umschweife. »Er war von meiner Einmischung nicht angetan.«
»Wahrlich ein schweres Vergehen«, sagte Richard mit sarkastischem Unterton. Er sah mich mit einem ernsten Gesichtsausdruck an. »Euer weiches Herz ehrt Euch, Mariana. Es ist keine Schande, nicht gerne zu töten. Wir lassen den kleinen Kerl hier also leben, ja?« Vorsichtig löste er das friedliche Tier aus meinem Griff und setzte es wieder in die Nisthöhle. »Hier, nehmt die an seiner Stelle.« Er gab mir die Tauben, die er zuvor getötet hatte.
Ich sah auf die leblosen Körper herab und wollte sie noch nicht einmal gern in die Hand nehmen. »Aber was wird aus Eurem Abendessen?« fragte ich ihn.
Richard de Mornay lächelte freudlos. »Mein Herz ist härter als das Eure. Ich habe keine Schwierigkeiten, Leben zu nehmen.« Er schloß meine Finger um die toten Tauben. »Tragt diese zu Eurem Onkel«, sagte er. »Ich habe mehr, als ich brauche.«
Ich wollte ihn daraufhin verlassen, aber statt zur Seite zu treten, um mich vorbeizulassen, nahm er mein Gesicht in beide Hände und küßte mich ein zweites Mal. Es dauerte eine lange, atemlose Minute, bevor er mich wieder losließ, und mein stoßweiser Atem übertönte beinahe das Konzert zufrieden gurrender Vögel.
»Immerhin«, entschuldigte er sich mit einer Stimme, die auch nicht ganz fest klang, »bemächtigt Ihr Euch zweier weiterer meiner besten Tauben.«
Die Geräusche der Vögel wurden noch lauter, der Lichtkreis zu unseren Füßen schien plötzlich blendend hell, und dann waren nur noch Stille und Sonnenlicht um mich
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