Marie ... : Historischer Roman (German Edition)
auf. „Michel!“ schrie sie ein ums andere mal. „Michel ...“ Da brach unter ohrenbetäubendem Krachen das Scheunendach ein. Eine hohe Flammensäule schlug zum Himmel. Regungslos standen wir beieinander, zur Untätigkeit verdammt. Der Ostwind hatte aufgefrischt und trieb uns gelbe Rauchschwaden ins Gesicht, die den Tränenstrom nicht abreißen ließen.
Madame Lambers war endgültig zusammengebrochen. Man trug sie ins Haus. Bérenger und ich brachten Henriette heim. Als es anfing zu dämmern, traf ihr Mann ein, der sie nicht trösten konnte, weil er selbst nicht zu trösten war. Doch er wollte hin zur abgebrannten Scheune, um alles mit eigenen Augen zu sehen. Wir stützten Henriette.
Am Unglücksort waren Luc und Torkain dabei, die restlichen Glutnester auszutreten. Noch immer standen Männer, Frauen und Kinder herum, denen nichts als Ratlosigkeit in den Gesichtern stand. Caclar forderte die umstehenden Männer auf: „Holt eure Mistgabeln und durchsucht alles gründlich – aber mit Vorsicht!“ Doch keiner rührte sich.
Da kam plötzlich Leben in Henriette. Tränenlos, das Haupt hoch erhoben, betrat sie, gestützt von ihrem Mann, die verkohlten Reste der Scheune. Dieses Mal hielt sie keiner zurück. Nie werde ich den Ausdruck ihrer Augen vergessen, als sie wieder herauskam, ein kleines schwarzes Bündel, statt ihres lustigen neunjährigen Jungen auf den Armen. Sie hatte ihn am rechten Schuh identifizieren können, der seltsamerweise fast unversehrt war.
Von dem schmächtigen Michel Lambers war noch weniger zu finden als von Marcel.
Das ganze Dorf fiel in Trauer.
Bérenger und ich, wir hielten abwechselnd Nachtwache bei den Nodiers und den Lamberts. Irgend jemand war so vernünftig gewesen und hatte nach Einbruch der Dunkelheit nicht nur den Sargmacher verständigt, sondern auch nach Dr. Guilleaume geschickt, um mit Hilfe von Laudanum den verzweifelten Familien zu ein wenig Schlaf zu verhelfen. Bis es so weit war, saß Suzette Lambert mit aufgelöstem Haar auf einem Schemel, den Rosenkranz zwischen den Fingern, und betete. Über ihre Lippen kam jedoch kein Ave Maria, kein Vaterunser, nein, ihr wundes Herz hatte sich, wohl um das schreckliche Geschehen zu verdrängen, in die Kindheit geflüchtet. Suzette betete Abzählreime. „Ein, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben“ – hurtig glitten ihre Finger die Perlen hinab –, „wo ist denn der Jacques geblieben, ei, er steckt im Butterfass, sapperlot, was ist denn das?“ Mindestens zehnmal hintereinander wiederholte sie den gleichen Vers. Ihr Mann redete auf sie ein, zog sie hoch, versuchte mit Gewalt, sie wieder in die Gegenwart zurückzuholen, doch vergebens. Sie schüttelte nur unwillig den Kopf, setzte sich wieder. „Meine Mutter schneidet Speck und schneidet sich den Daumen weg ...“, so ging es Stunden um Stunden. Bérenger bedeutete Monsieur Lambert, sie einfach gewähren zu lassen. Sie würde schon wieder zu sich kommen. Da brach der Mann zusammen, schlug die Hände vors Gesicht und schluchzte bitterlich.
Henriette hingegen saß mit wildem Blick auf dem Küchenstuhl, die Arme umklammerten ihren mageren Oberkörper, und wiegte sich ständig hin und her. Einmal blickte sie zu mir auf und sagte fast tonlos: „Seine Hände haben sich wie Löschpapier angefühlt, Marie.“
Ihr Mann rannte ein ums andere Mal hinaus, um nachzusehen, ob der Junge nicht vielleicht doch gesund draußen stünde. Konnte es nicht sein, dass jemand anderes dort verbrannt war? Eine Verwechslung?
Wir konnten nichts weiter tun, außer da zu sein, den verzweifelten Eltern die Hand zu halten, die völlig verstörten Geschwister in den Arm zu nehmen, uns selbst Kaffee und den anderen starke Suppe oder heiße Milch zu kochen und schweigend mit ihnen den Rosenkranz zu beten. Fromme Sprüche sind in einer solchen Situation wenig hilfreich. dass die unsichtbaren Hände Gottes sich an diesem Tag nicht über Rennes-le-Château oder zumindest nicht über der Scheune der Lambers befunden hatten, das wussten die Leute selbst. Und auf die Frage „warum“, die man stellt, wenn Kinder sterben müssen, gibt es selten eine befriedigende Antwort.
Einige Dörfler jedoch gaben Asmodi die Schuld an diesem Unglück.
43
„Verweigert den Gehorsam, verweigert das Mitmachen,
verweigert euch dem Krieg ...“
Boris Vian , Le déserteur
Über dem ganzen Drama hatten wir Emma vergessen. Als ich mich im Morgengrauen todmüde durch die ungemähte, taufeuchte Wiese der Caclars zur Villa Béthania
Weitere Kostenlose Bücher