Marie ... : Historischer Roman (German Edition)
Hause gehen), hatte man seit einiger Zeit alle jungen Burschen zu einem dreijährigen Militärdienst einberufen und hart gedrillt.
Und nun war es so weit. Nachdem unsere Armeen in den Grenzschlachten in Lothringen, Belgien und Nordfrankreich schwere Verluste erlitten hatten – man sprach von dreihunderttausend Toten, was ein Viertel der Gesamtstärke der Truppen bedeutete –, wurden natürlich alle anderen noch wehrfähigen Männer eingezogen, darunter fast alle Bauern aus Rennes-le-Château. Bérenger segnete sie in einem besonderen Bittgottesdienst, mit einfachen Worten, ohne Hass auf den Gegner, ohne jeglichen Chauvinismus. Er bat dabei um Frieden und um die wahre Liebe für Freund und Feind. Der Gottesdienst fand zwei Tage nach der Bestattung von Boudet statt.
Emma, die noch immer unser Gast war - aus gegebenem Anlass war sie nur dezent geschminkt und ebenso zurückhaltend gekleidet -, hatte sich still neben mich auf die Kirchenbank gesetzt, ganz gelassen, wie ich sie schon bei Boudets Beerdigung beobachtet hatte. Als Bérenger am Ende das Fürbittengebet sprach, da fasste sie plötzlich nach meiner rechten Hand und hielt sie fest. Ich warf einen kurzen Blick auf ihr Gesicht und sah Tränen in ihren Augen. War das noch die Emma, die ich kannte? Gab es eine zweite Seite in ihrem Wesen? Das aber erschreckte mich mehr, als wenn sie sich wieder sturzbetrunken in aller Öffentlichkeit an Bérenger herangemacht hätte. Ich wusste, dass Bérenger betrunkene Frauen nicht ausstehen konnte – aber eine Emma, die um ihr unbekannte Männer weinte, weil sie in den Krieg zogen?
Es kam, wie es kommen musste, die beiden schlossen sich erneut Tag für Tag in den Turm ein, um die augenblickliche Lage zu besprechen, wie Bérenger sagte. Welche Lage er damit meinte, blieb offen. Dass er sich dabei nicht recht wohlfühlte, sah man ihm an. Aber Emma, die weiterhin sehr freundlich zu mir war, gedachte dieses Mal nicht, Hals über Kopf abzureisen: „Die Lage“ - schon wieder! – „im Lande ist so, dass es besser ist, wenn man sich an einen einsamen Ort zurückzieht, nicht wahr, liebe Marie?“
Die liebe Marie nickte gottergeben und fügte sich in das Unabwendbare. Was hätte sie in Anbetracht des Krieges auch anderes tun können. Ich gebe es jedoch unumwunden zu: Ich litt heftig unter Bérengers Schwäche für diese andere Frau.
Andererseits hatte ich zu viel Stolz, um mir das anmerken zu lassen.
Die Gespräche, die beim Essen geführt wurden, waren meist harmlos, denn ich saß mit am Tisch. Sie drehten sich um die aktuellen Kriegsberichte, mitunter streiften sie auch vergangene Zeiten. Ich erinnere mich gut, dass sich Emma eines Abends ganz fürchterlich darüber aufregte, dass man bei der Revolution von 1848 über fünfundzwanzigtausend Menschen verhaftet und die Hälfte von ihnen nach Algerien oder Guyana deportiert hatte, Bauern und Arbeiter zumeist. „Man hat damit zwar der revolutionären Bewegung Einhalt geboten“, pflichtete ihr Bérenger bei, „der Wunsch nach Freiheit und Unabhängigkeit läßt sich aber mit brutaler Gewalt niemals aufhalten, da hast du schon recht, Emma!“
Ja, an Emmas liberaler Einstellung gab es gewiss nichts auszusetzen. Kannte man aber ihre andere Seite, diese hochmütige Art vor allem, mit gewissen Bediensteten umzugehen, so konnte man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie Bérenger nach dem Mund redete. Die beiden hatten jedenfalls Gesprächsstoff in Hülle und Fülle, was in Anbetracht des großen gemeinsamen Freundeskreises – von dem er mich weitgehend ausgeschlossen hatte, da ich nur die Bedienstete war - kein Wunder war.
Eines späten Abends, nach dem Genuss von zwei Flaschen Bordeaux, kamen sie auch auf Abbé Antoine Bigou zu sprechen und auf seine Flucht nach Sabadelle in Spanien vor über hundert Jahren. Die beiden dachten vielleicht, dass ich in meine Stickarbeit vertieft wäre, aber ich spitzte die Ohren und hörte, wie Bérenger Emma leise die Zusammenhänge erklärte (die ich längst aus seinen Aufzeichnungen kannte), nämlich dass Bigou das „Geheimnis“ (so drückte er sich aus) in Sabadelle einem gewissen Abbé Cauneille verraten hätte. Der wiederum hätte es zwei weiteren Priestern anvertraut, unter anderem Jean Vié, Boudets Vorgänger. „Zwei Priester hat Cauneille eingeweiht! Es kann also durchaus einen Mitwisser außerhalb unserer Gruppe geben“, hatte Bérenger gemeint, und es hatte sich bedenklich angehört. „Aber, wie ich es dir schon gesagt habe,
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