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Marie ... : Historischer Roman (German Edition)

Marie ... : Historischer Roman (German Edition)

Titel: Marie ... : Historischer Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helene Luise Köppel
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sie will nach Amerika – nach Florida, dorthin, wo es das ganze Jahr über so schön warm ist wie bei uns im Sommer. Sie schreibt von Orangen- und Zitronenbäumen und von einer kleinen weißen Villa am Meer, die sie im Begriff ist zu kaufen.“
    Sein Mund lachte bei seinen Worten, doch seine Augen? Nein, in ihnen war keine Fröhlichkeit, sie flackerten mehr als unruhig. Und auf meine vorsichtige Frage, ob sie sich eine zweite Villa überhaupt leisten könne oder ob sie dafür ihr Schloss in Millau verkaufen müsse, stand er jäh auf und sagte:
    „Emma hat hart gearbeitet in ihrem Leben, gönne es ihr also, zu tun und zu lassen, was sie will. Auch du hast alles erreicht, was du dir jemals erträumt hast, oder etwa nicht?“
    „Nein!“ rief ich aus, und die Tränen schossen mir in die Augen. „Ich habe längst nicht alles erreicht. Im Gegenteil, ich denke, ich bin im Begriff, alles zu verlieren, was ich mir jemals erträumt habe. Du weißt genau, wie gerne ich mit dir ein solches Leben geführt hätte, weitab von allen Menschen, die uns wegen unserer Liebe verachten. Eine weiße Villa am Meer, o mein Gott! Ein ruhiger Lebensabend ohne Neid, Verleumdung und Gefahr!“
    Ich stützte meinen Kopf in meine Hände, weil ich mich meiner Tränen schämte.
    Bérenger schwieg lange.
    Dann sagte er ernst: „Marie, jeder Mensch stellt spätestens am Ende seines Lebens fest, dass einige Ziele oder Wünsche für ihn unerreichbar waren. Vielleicht sind diese unerfüllten Träume notwendig, um sie mit hinüberzunehmen ins Paradies, sonst ist man leer und ausgebrannt, wenn es ans Sterben geht. Sei also froh, dass du sie geträumt hast.“
    „Noch bin ich nicht am Ende meines Lebens angekommen“, antwortete ich trotzig. „Du vielleicht, Bérenger, weil du ganze sechzehn Jahre älter bist als ich!“
    Da stand er auf, ging auf mich zu, nahm sein Taschentuch heraus und trocknete meine Tränen. „Ja, schon gut, Marie, ich habe deinen Seitenhieb wohl verstanden.“
    Danach küsste er irgendwie hilflos meine Nasenspitze und ging.
    Wie ein Häuflein Elend saß ich am Tisch. Was sollte ich mit einer solchen Antwort anfangen? Und wieso hatte er vom Sterben geredet? Ich war mehr als irritiert, aber auch zutiefst beschämt, ob meiner bodenlosen Frechheit.
    Vergebliche Träume also, unerreichbar in einem einzigen Leben? Ungetröstet von diesem Gedanken, nahm ich mir beim Einschlafen vor, mich gleich am nächsten Morgen bei Bérenger zu entschuldigen.

    Zwei Jahre darauf starb Boudet. Niemand hatte damit gerechnet, obwohl er in immer kürzeren Abständen erkrankt war. Bérenger hatte ihn oft vertreten müssen (was ihn vom Reisen abhielt); er hatte ihn auch häufig besucht, um Schach mit ihm zu spielen, denn zum Wandern war er schon lange zu schwach gewesen. Boudet, der Drahtzieher, wie ich ihn einmal bezeichnet habe, hatte außer Bérenger nicht viele Freunde. Dass Fachleute sein Buch kurz nach dem Erscheinen als „unseriös und urkomisch“ bezeichnet hatten, war ihm - bei aller Absicht, die dahinter gesteckt hatte - dennoch nahegegangen, wie mir Bérenger einmal erzählte.
    „Das hat er nicht verdient. Natürlich steckt das Buch voller Absurditäten, aber es ist nicht ´urkomisch` wie sie sagen. Nuda veritas! Es ist die nackte Wahrheit.“
    Bérenger war nach dem Erhalt der Todesnachricht einige Tage am Boden zerstört. Er war diesem Mann nicht hörig gewesen, aber auf gewisse Weise doch von ihm abhängig.
    Zur Beerdigung kamen fast alle Freunde aus Paris. Auch Emma, die noch nicht nach Florida gezogen war ...
    Der Krieg hatte ihre Pläne durcheinandergebracht.

    Der Krieg. Im Nachhinein hatte die ganze Welt geahnt, dass er ausbrechen würde, und jeder Mensch, der bei einigermaßen klarem Verstand war, sah sich plötzlich mit der Gabe der Hellsicht ausgestattet. Und in der Tat hatten viele der Gäste, die uns in den letzten Jahren aufgesucht hatten, auf die Gefahr eines Krieges hingewiesen. Dass sich die seit langem gespannte Atmosphäre mehr und mehr auflud und sich am Ende mit der vielgescholtenen „althergebrachten Diplomatie“ nicht mehr lösen ließ, das alles war von der halben Welt mit wacher Aufmerksamkeit verfolgt worden. Ein weiteres Anzeichen für eine bevorstehende Veränderung war die Musterung gewesen.
    Während in früheren Jahren die zwanzigjährigen wehrtauglichen Männer eine Zahl ziehen mussten und nur bei einer „schlechten“ Nummer zum Militärdienst eingezogen wurden („gute Nummern“ durften wieder nach

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