Marie ... : Historischer Roman (German Edition)
hinaufschlich – noch immer beißenden Rauch in der Nase –, war sie weg. Ein Brief von ihr lag offen auf dem Küchentisch:
Lieber Bérenger!
Ich habe von dem schrecklichen Tod der Kinder gehört und Félix gebeten, mich noch in der Nacht nach Esperaza zu fahren. Dort nehme ich mir ein Hotelzimmer, um morgen früh abzureisen. Im Augenblick und wohl auch in den nächsten Wochen wirst du hier dringend gebraucht. Trotz einiger verständlicher Schwächen bist du für mich einer der letzten wirklichen Pfarrherren, und das habe ich eben zu akzeptieren. Ich fahre nach Paris, quartiere mich dort höchstwahrscheinlich für längere Zeit im Excelsior ein und melde mich bald brieflich. Emma.
Nun ja, dachte ich, besser das Excelsior als die Villa Béthania, besser ein Brief aus Paris als stundenlange „persönliche“ Gespräche im Turm. Dennoch wollte sich keine rechte Freude über ihre Abreise einstellen.
Ich setzte mich an den Küchentisch, streckte die Beine aus und lauschte dem Gurren zweier Ringeltauben, die sich auf dem steinernen Rand meines Brunnens niedergelassen hatten. Als Bérenger, grau vor Müdigkeit, eine Stunde nach mir heimkam und sich ebenfalls erschöpft in seinen Sessel fallen ließ, schob ich ihm neben einer Tasse heißer Milch seine Augengläser und den Brief hin. Er nahm das Schreiben in die Hand, drehte es ein paar Mal hin und her, so als wüsste er gar nichts Rechtes damit anzufangen. Dann setzte er das Augenglas auf und las. Er verzog keine Miene, stand langsam auf und trat ans Fenster. Ich sah, dass er dort die Brille wieder abnahm, sich ausgiebig die Augen rieb, die die ganze Nacht nicht zur Ruhe gekommen waren. Oder waren da Tränen, die er mir nicht zeigen wollte?
„Ich lege mich ein wenig aufs Ohr, Marie“, sagte er leise. „Du solltest das gleiche tun. Die Arbeit läuft dir nicht davon. Appetit habe ich keinen, stell also das Frühstück wieder zur Seite. Und bitte, weck mich so rechtzeitig, dass ich noch die Totenmesse vorbereiten kann, und gib auch Antoine Bescheid, damit er die Kirche herrichtet.“
Ich nickte. Mein Kopf war wie leergebrannt, und meine Hände zitterten. Antoine war jedoch nicht aufzufinden. So ging ich selbst in die Kirche, um alles für den Abend vorzubereiten. Ich legte das schwarze Altartuch auf und entfernte allen Blumenschmuck. Es würde ein volles Gotteshaus geben, heute, und viele, viele Tränen.
Das wenigstens stand unverrückbar fest an diesem Morgen.
Emmas unverhoffte, wenn auch abrupt abgebrochene Visite bei uns hatte Bérenger erneut aus der Fassung gebracht. War er zuvor – durch seine Wiedereinsetzung in sein Amt – gelöst und locker gewesen, so verhielt er sich nun wie damals nach ihrem ersten Besuch: Er zog sich von mir zurück. Diese Frau hatte offensichtlich einen noch größeren Einfluss auf ihn, als ich gedacht hatte.
Aber es dauerte lange, sehr lange, bis der angekündigte Brief eintraf. Er war nicht zu übersehen gewesen, als ich rasch den Stapel durchsah, den Félix auf den Küchentisch geworfen hatte. Der Umschlag war in einem tiefen Rosa mit einem Stich ins Violette. Das passte nur zu einer Frau, zu Emma Calvé. Ich rührte den Brief nicht an, mischte ihn vielmehr unauffällig wieder unter die anderen Poststücke und schickte den Jungen damit zum Turm hinauf.
Beim Dîner musterte ich Bérenger unauffällig. Er sah abgeschlagen aus, kein Wunder, plagte uns doch seit Tagen der Autan, dieser heiße Wind, der alle Leute im Land verrückt macht. Es gibt kaum jemanden, dem in dieser Zeit nicht der Kopf dröhnt und hämmert. Bérenger aß langsam und kultiviert, während ich aus Nervosität eine Unmenge an „Armen Rittern“ in mich hineinstopfte, die ich vorher mit Weinsoße übergossen hatte. Die Unterhaltung floss zäh. Jeder von uns war mit seinen Gedanken wohl bei einer einzigen Person – bei Emma. Kurz bevor er aufstand, hielt ich es nicht mehr aus.
„Wie geht es eigentlich Emma? Hast du wieder einmal von ihr gehört?“
„Wie kommst du ausgerechnet heute auf Emma?“ Bérenger sah mich misstrauisch an. Ich zuckte mit den Schultern.
„Nun – es geht ihr recht gut. Sie hat vor, sich vom Konzertleben zurückzuziehen, wie sie schreibt“, antwortete er lapidar, um dann rasch die Nase in sein Brevier zu stecken, das wie immer aufgeschlagen neben seinem Teller lag. Es dauerte jedoch nicht lange, und er sah wieder hoch. Er hüstelte ein wenig verlegen, und plötzlich sprudelte es nur so aus ihm heraus: „Stell dir vor, Marie,
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