Marie ... : Historischer Roman (German Edition)
Hände, und mir war so übel von dem scheußlichen Anblick und Geruch, dass ich nichts zu mir nehmen konnte, wenngleich mich Monsieur Caprière zu trösten versuchte, indem er mit ruhiger Stimme erzählte, Wasserleichen würden in Lyon so häufig an das Ufer der Rhône angeschwemmt, dass niemand sich mehr darüber aufregen würde. Auffällig wäre jedoch – Caprière räusperte sich ein wenig verlegen -, dass es sich fast ausschließlich um Frauen handelte.
„Skandalöse Verhältnisse“, war von Madame Caprière in spitzem Tonfall zu vernehmen, die stets das letzte Wort hatte, aber offenbar auch nicht näher auf dieses heikle Thema einzugehen gedachte. Juliette, die sonst unablässig plapperte, stocherte lustlos und offensichtlich dunklen Gedanken nachhängend, in der Crème de Vanille herum. Mein Bruder, der in Windeseile zwei Portionen davon hinuntergeschlungen hatte –, er war schon früher ein Schleckermaul gewesen - hielt sich auch an diesem Abend eisern an seinem Weinglas fest, das er mehr als einmal nachfüllte. Ich dachte an die Absinth-Trinker. War es das Leben in der Großstadt, das Männer in den Alkohol und Frauen in die Fluten trieb?
Skandalöse Verhältnisse! Madame Caprières Worte hatten mich getroffen. Wie war es mit Bérenger und mir? Nicht nur der Wasserleiche wegen tat ich in dieser Nacht kein Auge zu.
Vorsichtshalber stellte ich die langen Uferspaziergänge ein, statt dessen entdeckte ich, wie außerordentlich gemütlich es in Caprières Buchladen war. Es roch anheimelnd nach trockenem Papier, poliertem Holz und Leder. Bis an die Decke ragten die dunklen Eichenregale. Die beiden Geschichtsbücher, die ich mit Barthélémys Hilfe heraussuchte, waren zu meiner Überraschung so spannend, dass ich eines davon bereits auf der Heimreise verschlang, wenngleich ich zugeben muss, dass ich beileibe nicht alles verstand, was ich las.
Als Bérenger eine Woche nach mir aus Paris zurückkehrte, kam er mir seltsam aufgekratzt und zugleich ein wenig distanziert vor. Unaufgefordert erzählte er beschwingt und mit ausgreifenden Gesten, was er und seine Kollegen am Seminar St. Sulpice unter großen Mühen herausgefunden hatten.
Die Pergamente waren so raffiniert verschlüsselt, dass man einen gewissen Emile Hoffet zu Rate gezogen hatte, den Neffen eines Generalsuperiors. Der junge Mann stand zwar erst kurz vor der Priesterweihe, galt aber bereits als Koryphäe auf dem Gebiet der Dechiffrierungskunde. Außerdem sprach er fließend Griechisch, Hebräisch und Sanskrit. Mit Hilfe des sogenannen Vigenère-Codes fanden sie schließlich heraus, was Boudet schon geahnt hatte, nämlich, dass zwei der verschlüsselten Texte (unter ihnen auch der Bibelabschnitt mit dem Ährenraufen) zweifelsfrei aus dem Mittelalter, und zwar aus dem Jahr 1244, stammten und mit der damaligen Ketzerei zu tun hatten. Sie enthielten die Namen der Grafen von Rennes-le-Château sowie den Hinweis auf eine direkte Linie dieses Geschlechtes zu den Merowingern. Darüber hinaus war eines der Pergamente durch die Königin von Frankreich, Blanca von Kastilien, gesiegelt, die in diesen Jahren in Rennes-le-Bains zur Kur weilte.
Am Ende von Bérengers Ausführungen erfuhr ich endlich auch, was es mit dem seltsamen „Rex mundi“ auf sich hatte.
„Boudet hatte recht, Marie, Rex mundi war für die Katharer oder auch Albigenser – wie man sie nach der Stadt Albi, ihrem ersten Bischofssitz, nennt – Satan, der Teufel höchstpersönlich. Das Wort Satan kommt aus der israelitischen Rechtspraxis und bezeichnet die Person, die die Vergehen der Menschen bei Gott anklagt. Im Buch Hiob wird er noch zu den Gottessöhnen gezählt, doch den Katharern war er ebenso Feind wie uns. Mit einem Unterschied: Der Glaube an den Teufel als den Herrn der Welt hatte bei den Katharern seinen Grund ausschließlich im dualistischen Denken. Sie glaubten an zwei Welten, zwei Prinzipien. Die eine Welt war für sie von einem guten Gott beseelt, dem hellen Prinzip, zu dem sie zeitlebens strebten; die andere, irdische, glaubten sie geschaffen vom ´ihm`, dem Teufel - von ´Rex mundi`, dem dunklen Prinzip, das sie verachteten und bekämpften. Wobei die Katharer sich beide Wesenheiten nicht als Person vorstellten, sondern als rein geistig.“
„Wie kamen sie auf die Idee mit den zwei Prinzipien?“
„Nun, die Katharer sahen sich als Geschöpfe, die nicht von dieser Welt waren. Sie betrachteten sich als gefangene Engelsseelen, eingesperrt in einen menschlichen Körper. Jesus
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