Marie ... : Historischer Roman (German Edition)
Bérenger plötzlich so gespreizt? Weshalb von kündigen und weggehen? Dass die Welt und offenbar auch sein eigener Bruder nicht wissen durfte, was er für mich empfand, war klar. Wo aber war seine Unabhängigkeit geblieben, wo sein freier Geist? Er gebärdete sich, als müsste er sich vor Alfred rechtfertigen. Aber weswegen nur?
Ich ging hinaus, um dem Gast einen heißen Backstein ins Bett zu legen, denn es war eisig kalt in dieser Nacht. Ich lauschte nicht gerade an der Tür, konnte aber auf dem Flur dennoch hören, was Alfred sagte.
„Bérenger, hier stimmt doch etwas nicht. Was ist los mit dir? Hast du ein Verhältnis mit dieser Marie?“
„Nein, nein!“ wiegelte mein tapferer Geliebter ab. „Was bildest du dir wieder ein! Sie ist mir nur treu ergeben. Wenn du allerdings den Eindruck hast, dass sie ein wenig verliebt in mich ist, so mag das schon stimmen. Aber sie ist ein braves Ding und sehr tüchtig! Wirklich, und ich selbst - ich habe mich völlig im Griff, mein Lieber. Keine Angst.“
„Völlig im Griff – so wie damals, als du schon kurz vor der Priesterweihe standest, bei der Affäre mit jener blutjungen Julie? Mach mir nichts vor – und vor allem, mach dir selbst nichts vor. Du läufst wieder einmal vor einem Problem davon!“
„He, he, was soll jetzt das?“ brauste Bérenger auf. „Bist du gekommen, um alte Geschichten aufzuwärmen? Du warst es doch, der hinter dieser Julie her war, seinerzeit“, sagte Bérenger ziemlich laut.
„Ja, das war ich – aber du hast sie missbraucht!“
„Ich habe was getan? Missbraucht? Ich habe sie niemals angerührt!“ schrie Bérenger.
„Davon ist auch gar nicht die Rede. Angerührt hast du sie nicht, aber ihr das Herz gebrochen – und ich habe das Gefühl, dass du das gleiche auch mit der Marie machst!“
„Hier liegst du völlig falsch“, zischte Bérenger. „Darf ich dich außerdem an deine augenblickliche Liaison mit der Marquise de Bozas erinnern? Alle Welt spricht bereits darüber. Die Marquise und ihr Beichtvater - der Jesuit!“ Bérenger lachte höhnisch auf. „Damit scheinst du doch der größere Herzensbrecher von uns beiden zu sein, oder? Wer im Glashaus sitzt, soll bekanntlich nicht mit Steinen werfen! Und nun gute Nacht.“
Rasch drückte ich mich in die Nische neben der Anrichte. Mit wutverzerrtem Gesicht stapfte Bérenger an mir vorbei. Die Haustür flog auf.
Noch bevor sie wieder zukrachte, war er verschwunden.
Natürlich besaß Bérenger ein eigenes Schlafzimmer in der Villa Béthania, aber um seinen falschen Worten Nachdruck zu verleihen, verbrachte er demonstrativ die Nacht im alten Pfarrhaus.
Lange konnte ich nicht einschlafen. Offenbar hatte heute die Vergangenheit Bérenger eingeholt. Wo Licht ist, ist wohl immer auch Schatten, ging es mir durch den Sinn. Blutjung soll sie gewesen sein. Nun, mein heimlicher Geliebter war ohne jeden Zweifel ein Frauenschwarm und der Jesuit wohl auch. Und dass Bérengers Pariser Bekanntschaft mit Emma so harmlos war, wie er sie mir geschildert hatte, hatte ich ihm noch nie abgenommen.
Zwei Wochen nach der Entdeckung seines Tagebuches hatte ich darüber Gewissheit erhalten.
„E.C. ist eine durch und durch faszinierende Person. Es ist schwer, sie zu vergessen.
H. schreibt, sie wäre befreundet mit Joseph Péladan und hätte eine Liaison mit Papus!?
(Papus = Dr. Gérard Anaclet-Vincent Encausse, Paris - Dr. der Medizin,
aber er selbst nennt sich Magier!!! – Wo bin ich nur hingeraten?“
Letzteres hatte ich mich damals auch gefragt.
Am nächsten Morgen, als ich Alfred das Frühstück servierte, schlich sich Bérenger wieder in die Villa. Mit keiner Silbe wurde der böse Streit vom vergangenen Abend erwähnt. Alfred war offenbar daran gelegen, sich mit seinem Bruder zu versöhnen, bevor er abreiste. So fing er an, lustige Begebenheiten aus ihrer Kindheit zum besten zu geben.
„Weißt du, dass mir mein Bruder einmal das Leben gerettet hat?“ fragte mich Bérenger, als ich Honig und frische Butter auf den Tisch stellte.
„Also, das ist wohl etwas übertrieben“, warf Alfred ein, der sich aber augenscheinlich gut daran erinnerte, denn seine Augen glänzten voller Stolz.
„Doch, doch“, bestätigte Bérenger eifrig. „Es war an einem heißen Sommertag in den Ferien. Wir durchstreiften die Garrigue, um Grillen zu fangen, bis wir müde wurden und uns unter eine alte Korkeiche in den Schatten legten. Es war ein wunderschöner Tag. Alles blühte und wogte neben uns, der
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