Marie ... : Historischer Roman (German Edition)
wollte kein Ende nehmen. Vielleicht hat mich aber auch nur mein Zeitgefühl im Stich gelassen. Denn nicht nur einmal war mir der irrwitzige Gedanke gekommen, dass dieser Weg ins Ungewisse sich in alle Ewigkeit hinziehen würde. Nun, so abwegig waren in Anbetracht meiner Situation diese Anfälle von Panik wohl nicht. Ein unrechter Tritt - und die Ewigkeit wäre mir sicher gewesen, Marie!“
Bérenger seufzte und hielt beide Handflächen empor.
„Endlich – ich wagte schon gar nicht mehr, darauf zu hoffen – war ich angelangt.“
„Wo?“ fragte ich aufgeregt.
„Irgendwo im Inneren des Berges. Ich hatte festen, ebenen Boden unter den Füßen, wusste aber zu diesem Zeitpunkt nicht, wie es weitergehen würde.“
Bérenger hielt inne in seiner Schilderung. Er sah mit leerem Blick in die Ecke der Küche, wo die blaue Anrichte stand. Man sah ihm deutlich an, dass er unter einer gewaltigen Spannung gestanden hatte dort unten im Berg.
Endlich fuhr er fort:
„Weißt du, Marie, die Entscheidung, ohne Seil weiterzuklettern, war die schwerste, die ich bislang in meinem Leben treffen musste, wenn ich auch kaum Zeit hatte, darüber nachzudenken. Mein Herz schlug heftig, das kannst du mir glauben! Selbst als ich endlich unten war, hämmerte es mir bis zum Halse, und die Beine zitterten so, dass ich mich einige Minuten ausruhen musste. Dann, als ich mich ein wenig beruhigt hatte und ein Vaterunser gesprochen, zündete ich eine meiner Kerzen an und schaute mich vorsichtig um. Der kleine Platz, auf dem ich mich befand, maß ungefähr anderthalb Meter im Quadrat. Zu meiner Linken konnte ich am Felsboden eine schmale Öffnung erkennen. Ich legte mich auf den Bauch, halb gekrümmt, denn die Beine auszustrecken war mir nicht möglich, und leuchtete in die Öffnung hinein. Und dann sah ich es!“
„Was? Was war dort, Bérenger! Sprich doch weiter!“ Jetzt konnte ich es vor Ungeduld kaum noch aushalten.
„Warte, Marinette, hab ein wenig Geduld.“ Bérenger hustete plötzlich heftig. „Die feuchte Luft im Berg hat sich mir wohl auf die Bronchien gelegt.“
Rasch holte ich den Topf mit dem Thymianhonig aus dem Regal.
„Du übertreibst, Marinette“, sagte er – und schluckte den Honig dennoch.
„Ja, was sah ich dort? Zuerst konnte ich nur schemenhafte Umrisse mehrerer Säcke ausmachen – alle von der Art wie der, der bereits in unserem Besitz ist –, und dann kroch ich einfach hinüber. Was hätte ich auch anderes tun können?“
„Erzähl doch - was ist in den Säcken?“ drängte ich.
Bérenger legte eine weitere Pause ein. Nachdenklich sah er erneut zur Anrichte hinüber. „Irgend jemand hat die Grotte im Bergesinneren schon vor mir entdeckt ...“, meinte er. „Auch diese Person ist wieder heil ans Tageslicht gekommen, ja - wenngleich auch auf anderem Weg als ich. Ich habe nämlich einen Ausgang gefunden, unten im Bals-Tal. Versteckt hinter dichtem Ginster- und Dornengestrüpp, von außen kaum zu erkennen. Der Abstieg von der Grotte zum Ausgang ist auch nicht ungefährlich, aber ganz sicher einfacher, als mühsam wieder zur Gruft hinaufzuklettern, was der andere getan haben muss. Warum aber hat er den Sack, wenn er ihn schon soweit heraufgezogen hatte, in der Gruft neben dem Sarkophag liegen lassen? Ist der Mann gestört worden? Wollte er ihn vielleicht später holen?“
Bérenger schwieg.
„Ich denke, es war Bigou“, sagte er nach einigen Minuten. „Durch was aber ist er auf diese Schatzkammer gestoßen?“
„Vielleicht hat er die Katharer-Pergamente doch entziffern können", gab ich zu bedenken.
Bérenger schüttelte heftig den Kopf. Erneut begann er unruhig auf- und abzulaufen. Wenn der Geist denkt, muss der Körper sich bewegen, pflegte er bei solchen Gelegenheiten zu sagen.
„Die Katharer waren schlaue Leute. Ja, unser ganzes Land – das Languedoc – galt in jener Zeit als eine Hochburg von Bildung und Wissenschaft, so dass der nordfranzösische Adel mit Neid auf uns herabsah und sich mit Rom verbündete, um uns zu überfallen. Denk nur an Montpellier, Marie, an unsere berühmte Universität, auf die die Katharer schon ihre Kinder geschickt haben. Auch unsere gemeinsame Sprache, das ´oc` - das sich trotz gleicher lateinischer Wurzeln von der ´qui`-Sprache des Nordens, die wir heute sprechen, unterscheidet - hat uns zusammengeschweißt. Nur politisch zogen wir nicht immer an einem Strang. Da hat der Toulouser – ich rede vom Grafen Raymond, der die Katharer schützte – große Fehler
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