Marie ... : Historischer Roman (German Edition)
unbefriedigende ...
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„Aus ihren Händen ist das Buch gefallen,
aus dem sie nichts gelesen hat ...“
Alfred de Musset , Sur une morte
Auch Simones Seele fand keinen Frieden. Sie hatte sich nicht entschließen können, an meiner statt mit dem Bruder in die Ferne zu ziehen, was ihr gewiss gutgetan hätte. Eines Nachts beschloss sie, das trostlose Warten zu beenden, ihr langweiliges Leben oder das, was von ihrem ausgebrannten Herzen übriggeblieben war, mit einer Dosis Zyankali auszulöschen. Als Bérenger die Nachricht erhielt, rannte er zu ihr hinauf, als ob er sie noch hätte retten können. Danach machte er sich die größten Vorwürfe, weil er als ihr Beichtvater die Anzeichen hätte erkennen müssen.
Auch ich selbst hatte ihretwegen ein schlechtes Gewissen. Wäre der Bruder nicht in Rennes erschienen, hätten wir uns sicher längst versöhnt.
Aber man darf sich nichts vormachen. Im Grunde war Simone weder etwas an meinen noch an Bérengers Besuchen gelegen. Sie wollte sterben, damit ihr einziger Wunsch endlich in Erfüllung ging: Ihr Gatte, der hochgeachtete Amtmann aus Carcassonne, kam, nachdem er die schreckliche Nachricht empfangen hatte, den Berg heraufgeschlichen, einsilbig und niedergeschlagen, um sie noch einmal zu sehen und sie in aller Stille zu Grabe zu tragen. Dass im Schlepptau diese andere Frau mitkam, gesenkten Blickes zwar, eine kleine, rundliche Matrone, im dunkelblauen, ziemlich unvorteilhaft geschnittenen Kleid mit Perlenkette, umringt von inzwischen vier nörgelnden Kindern, das hätte sich Simone allerdings nicht gewünscht.
Dennoch wurde so erst der seltsame Gegensatz beider Frauen deutlich. Die neue an seiner Seite hätte niemals mit Simone konkurrieren können, doch der Amtmann betete sie geradezu an. Sie war nichts weiter als eine verhuschte, gutmütige Glucke, mit breitem Gesicht und unglücklichem Lächeln. Im Gegensatz zu ihr war Simone ein Paradiesvogel gewesen, elegant und gescheit.
Wer weiß schon, was letzten Endes die Männer anziehend finden an den Frauen.
Simone bekam kein christliches Begräbnis. Bérenger konnte keine Ausnahme machen, obwohl er selbst es nicht richtig fand. Ihr Mann ließ aus dem gleichen Grunde auch keinen Bibelspruch auf den Fuß der geflügelten Marmorgestalt meißeln, sondern nur eine schlichte Inschrift:
Simone Leclerque
geborene Loissac
1859 - 1896
So sanft sie war und so einsam sie lebte,
so ging sie von uns.
Als ich diese Worte las, den Geruch des feuchten Herbstlaubes einatmend, das weich und braun zu meinen Füßen lag, schossen mir die Tränen in die Augen. Ich betrachtete voller Wehmut den kleinen Kranz von Imortellen, den seine Kinder auf dem Erdhügel niedergelegt hatten, und dachte bei mir: Du dummer Esel, Unsanft war ihr das Leben, hättest du lieber geschrieben, nachdem sie durch dich so einsam geworden ist. Einmal davon abgesehen, dass das Sterben durch Zyankali alles andere als sanft ist, wie die Leute sagen.
Der Amtmann löste in Windeseile den Haushalt auf und verkaufte das von ihm so heiß geliebte Haus, auf dem von ihm so heiß geliebten Berg. Die Caclars haben es erworben für ihren jüngsten Sohn, den sie geradezu vergöttern – wer sonst hat soviel Geld im Dorf. Mit dem jungen Christian Caclar, auf den die Familie die allergrößten Hoffnungen setzte, nachdem der ursprüngliche Erbe sich über Nacht auf und davon gemacht hatte, ist eine neue Generation alter Besserwisser dort eingezogen. Christians bigotte, schnurrbärtige Frau Celine, die stets (ganz sicher auch im Bett) eine züchtige weiße Spitzenhaube trägt, die ihr wie Odiles grüner Hut bis auf die Augen hängt -, jene Schnurrbärtige also zischte und tuschelte eifrig mit jedermann im Dorf. Ihre drei Schwägerinnen (Marie Riché, die Schneiderin, Isabelle und Elaine Riché, die unzertrennlichen Jungfern) waren lange Zeit ihre engsten Vertrauten. Einige Wochen war der Selbstmord von Simone Dorfgespräch, aber bald redeten die vier wieder über mich, wenn sie sich am Abend am Brunnen trafen, und obendrein noch so, dass ich es auch merkte, wenn ich an ihnen vorüberlief.
Es war ein böses Jahr. Wenige Wochen später starb auch Émilie.
Bérenger und ich, beide saßen wir an ihrem Sterbebett und hielten ihre Hand, als sie sanft hinüberschlummerte. Mit ihrer Güte und Toleranz war sie mir in Rennes-le-Château Großmutter und Mutter zugleich geworden. Es ist eine Gnade, wenn man im Leben solchen Menschen begegnet, denn die eigene Familie kann man sich
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