Marienplatz de Compostela (German Edition)
vorbeizukommen, war damit obsolet geworden. Doch es ängstigte sie nicht. Vielmehr richtete sie alle ihre Sinne nach möglichen neuen Gefahren aus. Die Schritte von oben waren ein Warnsignal. Ein neuer Level stand an. Sie war bereit dafür und fast fühlte sie ein wenig Freude darüber einer neuen Herausforderung gegenüberzustehen, und sie war gierig darauf geworden ihn zu erwischen, mit einem Speer, mit einem Bolzen, oder mit ihren blanken Händen. Was war bloß aus ihr geworden? Auf den Weg hatte sie sich begeben, nach Santiago de Compostela. Nicht um vor etwas wegzulaufen, vielmehr um ein Ziel zu erreichen, das nicht nur aus einem Ort bestand. Wovor hätte sie auch davonlaufen sollen? Vor den belebend frischen Sommermorgen vielleicht, die sie mit einem Cappuccino in der Ideal Espresso Bar begann, im Schatten der vier Kastanien, wo sich die Kühle der Nacht länger hielt? Dort, wo alle anderen der morgendlicher Genießer ihre Stühle in Richtung Weißenburger Platz ausgerichtet hatten, um den Blick auf die Bühne aus Linden, Blumenbeeten und den säuselnden Wasservorhang des Glaspalastbrunnens frei zu haben; über allem das ferne Geläut einer Frühmesse. Der Gedanke an diese Szenen, die Erinnerung an ihr altes Leben, sie entfachte Gefühle und Empfindungen die sie verwirrten und die Gefahr bargen, ihre gewonnene Klarheit zu verlieren. Weshalb hatte sie diese Puppenstube, die ihr Leben war, aufgegeben? Zu sich selbst wollte sie kommen. Das war der Grund, den sie sich selbst zugestanden hatte. Dahinter lag, unausgesprochen und ihr nicht fremd, der Wille, mit diesem Pilgerjahr ein Dokument zu liefern, das ihre moralische Stärke belegen sollte. Und nun?
Nun war sie zu sich selbst gekommen und hatte – verborgen von guten Manieren – ein fremdes Wesen in sich entdeckten müssen; eines, das bereit und auch willens war zu töten. Und nicht einen Augenblick empfand sie Reue darüber. Nicht einen Augenblick. Sie war ganz dieses kühle Wesen geworden.
Stromabwärts
Batthuber hatte nicht lange gebraucht, um Adressen und Telefonnummern des Huber’schen Familienclans herauszufinden. Er las Lara Namen und Geburtsdaten am Telefon vor, so, wie sie das verlangt hatte. Sie saß im Wagen und lauschte konzentriert. »Anna-Lena, das würde passen«, unterbrach sie ihn und ließ sich die Telefonnummer geben. »Gibt’s noch ein Enkelchen in diesem Alter?«
»Nein, zwei jüngere Buben. Die sind fünfzehn und siebzehn.«
»Nein, die nicht.«
Sie legte auf, noch bevor Batthuber fragen konnte, worum es ihr bei der Sache ging, und wählte die Handynummer von Anna-Lena. Ihre Stimme duldete keine Widerrede, als sie deutlich machte, sich umgehend mit ihr treffen zu müssen.
Danach rief sie Bucher an. Der war noch im Haus der Angehörigen von Nora Bender, konnte aber reden. »Wie läuft’s so?«, fragte sie.
»Oje, vergiss es. Gott sei dank ist der Seelsorger dabei. Er sitzt oben und redet mit ihnen. Völlig unmöglich etwas zu erfahren, was uns weiterbringen könnte. Wir warten nur noch, bis der Hausarzt da ist, weißt du, die Schwester von ihr kommt nicht mehr runter. Wir brechen dann hier ab und ich fahre nur kurz zurück ins Büro. Wir sehen uns morgen. Ich weiß nicht … vielleicht habe ich das auch völlig falsch angefangen, obwohl du mich ja vorgewarnt hattest. Ich … ich konnte ja nicht sagen ›Wir haben ihre Schwester, Tochter, oder so, gefunden‹. Ich habe dann einfach gesagt Wir haben ein Bein gefunden und ein DNS -Abgleich hat bestätigt, dass es sich um dabei um das Bein von Nora Bender handelt . Von da an ging gar nichts mehr. Sie hatten diese beschissene Zeitung natürlich rumliegen, die mit dem Bild. Also mir langt es für heute.«
Sie verabschiedeten sich voneinander. Lara hatte genau so etwas erwartet und war froh, nicht selbst in der Situation gewesen zu sein.
*
Anna-Lena war eine gertenschlanke Neunzehnjährige mit kurzen blonden Haaren. Zwei pinkfarbene Strähnen leuchteten grell hervor. Eine solche Enkelin hätte sie dem Huber Franz gar nicht zugetraut. Ihrer ganzen Haltung war die Angst anzusehen, die ein schlechtes Gewissen erzeugte. Trotzdem blitzten ihre Augen manchmal zornig auf.
Sie war Zahnarzthelferin in einem der Ärztehäuser, die sich in der Stadt breitmachten und trat Lara gegenüber sehr selbstbewusst auf. Die legte ihr die Fotos vor und sah sofort das Erschrecken auf ihrem Gesicht.
»Weiß mein Opa davon?«, verriet sie sich mit ihrer ersten Frage.
Manchmal geht es ganz leicht,
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