Marionetten
mitgehört, dachte er. Jemand ist bei ihr im Zimmer und gibt ihrer Chorknabenstimme den Einsatz.
* * *
Das Handy noch in der Hand, saß Annabel an dem kleinen weißen Schreibtisch in ihrer alten Wohnung und sah durch das Fenster hinaus auf die dunkle Straße. Ein Stück hinter ihr, in dem einzigen Sessel, saß Erna Frey und nippte wachsam ihren grünen Tee.
»Er will wissen, ob Issa sein Erbe antritt«, berichtete Annabel. »Und was mit seinem Scheck ist.«
»Und du hast ihn hingehalten«, sagte Erna anerkennend. »Und zwar sehr geschickt, fand ich. Wenn er das nächste Mal anruft, hast du vielleicht schon bessere Neuigkeiten.«
»Besser für ihn? Besser für euch? Besser für wen?«
Annabel legte das Telefon vor sich hin, stützte den Kopf in beide Hände und fixierte das Gerät so verbissen, als enthielte es die Antwort auf alle Rätsel des Universums.
»Für uns alle, Annabel«, sagte Erna Frey im selben Moment, in dem das Handy wieder zu klingeln begann. Sie stand auf, aber sie war nicht schnell genug. Mit einer gierigen Bewegung hatte Annabel danach gegriffen und meldete sich.
Es war Melik, der sich von ihr verabschieden wollte, bevor seine Mutter und er in die Türkei aufbrachen; aber noch dringender wollte er in Erfahrung bringen, wie es Issa ging, wegen dem er sich nach wie vor schuldig fühlte.
»Und wenn wir zurück sind – sagen Sie das meinem Bruder, sagen Sie das unserem Freund: jederzeit. Okay? Sobald er die Duldung hat, kann er wieder zu uns. Dann kriegt er sein Zimmer zurück und darf das ganze Haus leer futtern. Er ist der Größte, sagen Sie ihm das von mir. Melik muß es wissen. Und er könnte mich in einer einzigen Runde k. o. schlagen, okay? Nicht im Ring vielleicht. Aber da, wo er war, Sie wissen schon.«
Ja, Melik, ich weiß. Und grüßen Sie Leyla von mir. Und ich wünsche ihr eine ganz wunderbare Hochzeitsfeier mit allem Drum und Dran. Und Ihnen auch, Melik. Und Ihrer Schwester und ihrem Bräutigam ein langes Leben. Und Glück und Zufriedenheit. Und kommen Sie wohlbehalten zurück, Melik, und passen Sie gut auf Ihre Mutter auf, sie ist so eine tapfere Frau, und sie liebt Sie, und sie hätte Ihrem Freund keine bessere Mutter sein können …
Und weiter in dem Stil, bis Erna Frey das Telefon sanft aus Annabels verkrampften Fingern löste, es ausschaltete und ihr behutsam die Hand auf die Schulter legte.
11
Weder ihr Übersprudeln bei Melik noch ihre Zugeknöpftheit bei Brue waren Einzelerscheinungen in Annabels neuem Dasein. Jeder Tag wurde erneut zum Wechselbad der Gefühle: Scham, Haß auf ihre Bewacher, strahlender, irrationaler Optimismus und dazwischen lange Phasen kritikloser Ergebung in ihre Lage.
In der Arbeit kapselte sie sich von allen ab, obwohl Bachmann postwendend dafür gesorgt hatte, daß Herr Werner bei Ursula anrief und ihr in Sachen Issa Karpow Entwarnung gab.
Erna Frey war nicht mehr nur Annabels Betreuerin, sondern auch ihre Nachbarin. Nur einen Tag nachdem Annabel von dem gelben VW-Bus am Hafen abgesetzt worden war, hatte Erna sich im Erdgeschoß eines Aparthotels keine hundert Meter entfernt eingemietet, und die Wohnung in dem Bau aus Stahl und Beton wurde Annabels drittes Zuhause. Vor jedem Besuch bei Issa machte sie Station dort, und nach jedem Besuch kehrte sie dorthin zurück. Manchmal schlief sie sogar dort, um sich nicht so allein zu fühlen, in dem Kinderzimmer, zu dessen Fenster die Leuchtreklamen hereinschienen.
Die Morgen- und Abendbesuche bei Issa waren keine tollkühnen Eskapaden mehr, es waren Theaterstücke, einstudiert unter der sorgfältigen Regie Ernas – und als die Tage dahingingen, mehr und mehr auch der Bachmanns. In dem gardinenverhangenen kleinen Wohnzimmer der sicheren Wohnung instruierten sie sie, einzeln oder zu zweit, bevor Annabel die verwinkelte Holztreppe erklomm, und nahmen sie hinterher wieder in Empfang. Alte Szenen wurden abgespielt und analysiert, neue entworfen und ausgefeilt, alles zu dem einen Zweck, Issa so weit zu bringen, daß er sein Erbe antrat und sich vor der drohenden Abschiebung rettete.
Und Annabel, für die das größere Ziel, auf das sie hinarbeiteten, eine eher schattenhafte Existenz führte, war ihnen stillschweigend dankbar für ihre Direktiven, von denen sie, wie sie beklommen merkte, immer abhängiger wurde. Solange sie zu dritt über das Tonbandgerät gebeugt saßen, stellten Erna und Günther, nicht Issa, ihre Verbindung zur Wirklichkeit dar, und Issa war ihr gemeinsames Sorgenkind.
Erst wenn sie
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