Marionetten
hinaustrat auf den belebten Gehsteig, wenn sie die hundert Meter ihrer Via dolorosa zurück zu Issa in Angriff nahm, drehte sich ihr der Magen um, ihre Zunge klebte am Gaumen vor Scham, und am liebsten hätte sie den beiden all die schmutzigen Zusicherungen, die sie ihnen gegeben hatte, vor die Füße geworfen. Schlimmer noch, es schien ihr, als spürte Issa mit seiner geschärften Häftlingssensibilität die Veränderung, die mit ihr vorgegangen war, den Rückhalt, den sie wider Willen darin fand, daß sie fremdbestimmt handelte.
»Laß ihn so nah an dich heran, wie du kannst, ohne deinen inneren Abstand preiszugeben, Annabel«, riet ihr Erna. »Lock ihn behutsam aus der Reserve. Wenn er seine Entscheidung trifft, dann wird sie spontan sein, nicht kopfgesteuert.«
Annabel hatte Schach mit ihm gespielt, Musik mit ihm gehört und, angeleitet von Erna, an Themen gerührt, die noch vor zwei Tagen tabu gewesen wären. Aber je unbefangener sie miteinander wurden, desto mehr schwand seltsamerweise ihre Bereitschaft, seine Sticheleien gegen ihren westlichen Lebensstil hinzunehmen, insbesondere die Spitzen gegen Karsten, dessen teure Sachen er mit schönster Selbstverständlichkeit trug.
»Haben Sie jemals eine Frau geliebt, Issa – außer Ihrer Mutter?« wollte sie von ihrem Ende des Lofts her von ihm wissen.
Ja, bekannte er nach ausgedehntem Schweigen. Er war damals sechzehn gewesen. Sie war achtzehn und schon zur Waise geworden, eine Tschetschenin wie seine Mutter, fromm, bildschön und keusch. Ihre Gefühle hätten keinen körperliehen Ausdruck gefunden, versicherte er ihr: zwischen ihnen habe die reine Liebe geherrscht.
»Und was ist aus ihr geworden?«
»Sie ist verschwunden.«
»Wie hieß sie?«
»Das ist irrelevant.«
»Und wie ist sie verschwunden?«
»Sie war eine Märtyrerin für den Islam.«
»Wie Ihre Mutter?«
»Sie war eine Märtyrerin.«
»Märtyrerin welcher Art?« Schweigen. »Eine freiwillige Märtyrerin? Die sich vorsätzlich für den Islam geopfert hat?« Schweigen. »Oder eine unfreiwillige Märtyrerin? War sie ein Opfer, wie Sie? Wie Ihre Mutter?«
Irrelevant, wiederholte Issa nach einer Ewigkeit. Gott sei barmherzig. Er werde ihr vergeben und sie ins Paradies einlassen. Dennoch, das bloße Eingeständnis, daß Issa eine Frau geliebt hatte, machte ihn angreifbar, wie Erna Frey flugs betonte.
»Das ist nicht nur eine Delle in seiner Rüstung, Annabel, das ist ein Loch 1« rief sie. »Wenn er über Liebe redet, dann ist er bereit, über alles zu reden, Religion, Politik, was du willst. Er weiß es vielleicht noch nicht, aber er möchte von dir umgestimmt werden. Jetzt nicht lockerlassen, Annabel, damit hilfst du ihm am meisten.« Gefolgt von dem Zuckerstückchen, nach dem sie immer schon gierte: »Du machst das großartig, Annabel. Er hat unglaubliches Glück mit dir.«
* * *
Und sie ließ nicht locker. Frühstück am nächsten Morgen um sechs. Kaffee und frische Croissants, gestiftet von Erna. Sie saßen an ihren üblichen Plätzen: Issa unter dem Bogenfenster, Annabel in die entfernteste Ecke gedrückt, den langen Rock bis zu den klobigen schwarzen Stiefeln heruntergezogen.
»Schon wieder Bombenanschläge in Bagdad«, verkündete sie. »Haben Sie heute morgen Radio gehört? Fünfundachtzig Tote, Hunderte von Verletzten.«
»Es ist Gottes Wille.«
»Sie meinen, Gott findet es richtig, wenn Muslime sich gegenseitig umbringen? Das ist kein Gott, mit dem ich viel anfangen kann.«
»Urteilen Sie nicht über Gott, Annabel. ER wird hart mit Ihnen ins Gericht gehen.«
»Finden Sie es denn richtig?«
»Was?«
»Das Blutvergießen.«
»Man kann Allah nicht glücklich machen, indem man Unschuldige tötet.«
»Wer ist unschuldig? Wen darf man umbringen, damit Allah glücklich ist?«
»Allah weiß es. ER weiß immer Rat.«
»Aber woher wissen wir es? Wie teilt er es uns mit?«
»ER hat es uns durch den heiligen Koran mitgeteilt. ER hat es uns durch den Propheten mitgeteilt, Friede sei auf ihm.«
Warte, bis du die Lücke in seinem Visier siehst, dann stoß zu, hatte Erna sie angewiesen. Jetzt sah sie die Lücke.
»Ich habe ein Buch von einem berühmten islamischen Gelehrten gelesen. Dr. Abdullah heißt er. Haben Sie von ihm gehört? Dr. Faisal Abdullah? Er lebt hier in Deutschland. Er tritt manchmal im Fernsehen auf. Nicht oft. Dazu ist er zu fromm.«
»Warum sollte ich von ihm gehört haben, Annabel? Wenn er im westlichen Fernsehen auftritt, ist er kein guter Muslim, er ist
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