Marionetten
Dr. Abdullahs drei kleine Büchlein in russischer Sprache vorbeigebracht. Jetzt war sie wieder da. Sie zog ein Blatt Papier aus ihrem Anorak. Bisher hatten sie kaum ein Wort gewechselt.
»Das hier habe ich aus dem Internet heruntergeladen. Möchten Sie es hören? Es ist auf deutsch, ich muß es übersetzen.«
Sie wartete auf eine Antwort, und als keine kam, begann sie laut genug für sie beide:
»Dr. Abdullah, gebürtiger Ägypter, ist fünfundfünfzig Jahre alt. Er ist ein weltbekannter Gelehrter, Sohn und Enkel von Imamen, Muftis und Lehrern … Während seiner turbulenten Studentenzeit in Kairo ließ er sich von den Lehren der Muslimischen Bruderschaft mitreißen und wurde für seine militanten Überzeugungen verhaftet, ins Gefängnis gesperrt und gefoltert … Nach seiner Entlassung setzte er erneut sein Leben aufs Spiel, indem er sich gegen seine ehemaligen Kampfgenossen stellte und den Weg der Brüderlichkeit, Wahrhaftigkeit, Toleranz und Achtung vor Gottes ganzer Schöpfung predigte. Dr. Abdullah ist ein reformistischer orthodoxer Gelehrter, der besonders die Vorbildfunktion des Propheten und seiner Gefährten betont.«
Wieder wartete sie. »Hören Sie mir zu?«
»Ich ziehe die Werke Turgenjews vor.«
»Weil Sie keine Lust haben, eine Entscheidung zu treffen? Oder weil es Ihnen nicht paßt, daß eine dumme Ungläubige Ihnen Bücher bringt, in denen steht, was ein guter Muslim mit seinem Geld anfängt? Wie oft muß ich Ihnen noch sagen, daß ich Ihre Anwältin bin?«
In dem gescheckten Halbdunkel schloß sie die Augen und öffnete sie wieder. Hat er vergessen, auf was für einem Pulverfaß er hier sitzt? Aber warum soll er sich mit großen Entscheidungen herumquälen, wenn wir ihm all die kleinen abnehmen?
»Issa, wachen Sie auf! Bitte. Fromme Muslime aus der ganzen Welt fragen Dr. Abdullah um Rat. Warum Sie nicht auch? Er vertritt jede Menge angesehene muslimische Stiftungen. Manche davon schicken auch Hilfsgüter nach Tschetschenien. Wenn ein weiser muslimischer Gelehrter wie Dr. Abdullah bereit ist, Ihnen zu sagen, wie Sie Ihr Geld am besten verwenden sollten, warum zum Donnerwetter hören Sie dann nicht auf ihn?«
»Es ist nicht mein Geld, Annabel. Es wurde dem Volk meiner Mutter gestohlen.«
»Dann suchen Sie nach einem Weg, es zurückzugeben! Und studieren bei der Gelegenheit auch gleich richtig Medizin, so daß Sie in Ihre Heimat zurückkehren und Ihren Leuten helfen können! Ist das nicht das, was Sie wollen?«
»Betrachtet Mr. Brue diesen Abdullah wohlwollend?«
»Ich glaube nicht, daß er ihn kennt. Vielleicht hat er ihn irgendwann im Fernsehen gesehen.«
»Es ist irrelevant. Die Meinung eines Ungläubigen zu Dr. Abdullah fällt nicht ins Gewicht. Ich werde diese Bücher selbst lesen und mit Gottes Hilfe zu einer Entscheidung gelangen.«
Fiel da endlich die letzte Barriere? Einen Moment lang betete sie, es möge nicht so sein, mit einem Gefühl der Panik, das sie sich selbst nicht erklären konnte.
Es schien eine Ewigkeit, bevor er weitersprach. »Allerdings ist Mr. Tommy Brue Bankier und kann diesen Dr. Abdullah somit aus weltlicher Sicht überprüfen. Erst wird er mit der Hilfe anderer Oligarchen feststellen, ob der Mann in seinen weltlichen Geschäften als ehrenhaft gilt. Das unterdrückte tschetschenische Volk ist zu viele Male beraubt worden, nicht nur durch Karpow. Ist er ehrenhaft, so wird ihm Mr. Brue in meinem Namen eine Reihe von Bedingungen unterbreiten, und Dr. Abdullah wird gemäß Gottes Geboten handeln.«
»Und was passiert dann?«
»Sie sind meine Anwältin, Annabel. Sie werden mich beraten.«
* * *
Das kleine Restaurant hieß Louise und hatte die Hausnummer 3 in der Maria-Louisen-Straße, Hauptstraße eines anheimelnden Viertels voller Antiquitätengeschäfte, Bioläden und Frisiersalons für die vielen reichen Hunde, die in dieser mondänen Nachbarschaft residierten. Früher, als Annabel sich noch für einen freien Menschen gehalten hatte, hatte sie oft ganze Sonntagvormittage im Louise gesessen, einen Caffè Latte und eine Zeitung vor sich, und die Welt an sich vorbeiziehen lassen. Und nun hatte sie Mr. Tommy Brue von Brue Frères ins Louise bestellt, der eine so betuchte und behütete Umgebung hoffentlich nach seinem Geschmack finden würde.
Auf Erna Freys Rat hatte sie den späten Vormittag vorgeschlagen, weil um diese Zeit im Louise am wenigsten Betrieb herrschte und die Chancen, daß Brue kurzfristig verfügbar sein würde, am größten waren.
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