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Marionetten

Marionetten

Titel: Marionetten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carre
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Denn wie Erna zu Recht bemerkte: Wenn dein Mr. Tommy irgend etwas darstellt in der Finanzwelt, dann ist er zum Mittagessen unter Garantie schon verabredet. Worauf Annabel lieber nicht erwiderte, daß Brue, wenn sie seine Gefühle nicht völlig verkehrt einschätzte, für ein Treffen mit ihr sogar ein Essen mit dem Präsidenten der Weltbank hätte sausenlassen.
    Dennoch beschloß sie – aus einer Laune heraus, der ein langer, unzufriedener Blick in den Spiegel vorausgegangen war –, sich für ihn ein bißchen herzurichten. Mr. Tommy Brue sollte auch einmal Grund zur Freude haben. Nichts Übertriebenes, aber er war ein netter Mann und verliebt in sie und verdiente ein bißchen Entgegenkommen. Und es würde guttun, sich ihm zur Abwechslung als Abendländerin zu präsentieren. Zum Teufel also mit der Tracht, die Issas muslimische Empfindsamkeiten ihr aufnötigten, ihrer Sträflingskleidung, wie sie immer öfter dachte. Nein, sie würde ihre beste Jeans anziehen und dazu die weißseidene Wickelbluse, die sie von Karsten geschenkt bekommen und noch nie getragen hatte. Und die neuen, etwas formschöneren Schuhe, die trotzdem noch zum Fahrradfahren taugten. Und wenn sie schon dabei war: warum nicht etwas Make-up auflegen, um diesen käsigen Backen ein bißchen Farbe zu geben und ein paar versteckte Glanzlichter hervorzulocken? Brues offenkundige Begeisterung, als sie ihn aus der Gefangenschaft von Ernas Wohnung angerufen hatte, gleich nach dem Morgenbesuch bei Issa, hatte sie schwer gerührt.
    »Wunderbarl Phantastisch! Gratuliere, dann haben Sie ihn also doch rumgekriegt. Ich dachte schon, Sie würden es nie schaffen, und jetzt haben Sie’s doch geschafft! Sagen Sie mir einfach nur, wann und wo«, hatte er gedrängt. Und als sie die Sprache auf Abdullah gebracht hatte, ohne freilich seinen Namen zu erwähnen, weil Erna das für voreilig hielt: »Ethische und moralische Auflagen? Meine liebe Dame, für uns Bankiers ist das unser tägliches Geschäft! Hauptsache ist jetzt erst mal, daß Ihr Mandant seinen Anspruch geltend macht. Sobald das vom Tisch ist, wird Frères Himmel und Hölle für ihn in Bewegung setzen.«
    Bei einem anderen Mann seines Alters hätte soviel Enthusiasmus sie abgeschreckt, aber nach ihrer glanzlosen Darbietung beim letzten Gespräch war sie zutiefst erleichtert darüber, ja regelrecht glücklich. Denn war nicht die ganze Welt abhängig von ihrem Verhalten? War nicht jedes ihrer Worte, jedes Lächeln, jedes Stirnrunzeln, jede Gebärde persönliches Eigentum derer, die ein Anrecht an ihr besaßen: Issa, Günther Bachmann, Erna Frey und bei Fluchthafen Ursula und ihre ganze frühere Familie dort, die samt und sonders ihrem Blick auswichen und sie dabei doch heimlich beobachteten?
    * * *
    Kein Wunder, daß sie nicht schlafen konnte. Sie brauchte den Kopf nur aufs Kissen zu betten, und schon spulten sich all die unterschiedlichen Rollen, in die sie den Tag über hatte schlüpfen müssen, in ihrem Hirn neu ab: Habe ich es übertrieben mit meiner Besorgnis um das kranke Kind unserer Telefonistin? Wie war meine Reaktion, als Ursula zu mir meinte, ich sollte doch demnächst Urlaub nehmen? Und warum sagt sie so etwas überhaupt, wo ich doch den ganzen Tag nur brav in meinem Büro sitze und gewissenhaft meiner Arbeit nachgehe? Und wie kommt es, daß ich mich als den sprichwörtlichen Schmetterling in Australien sehe, der nur mit den Flügeln schlagen muß, und am anderen Ende der Welt bebt die Erde?
    Gestern abend nach der Rückkehr in ihre eigene Wohnung hatte sie, ganz beschwingt von ihrem Durchbruch bei Issa, noch einmal Dr. Abdullahs Website angeklickt und sich Ausschnitte seiner Fernsehauftritte und Interviews angesehen, und es beruhigte sie doch sehr zu wissen, daß Günther Bachmann dem ehrwürdigen Doktor kein verdammtes Haar zu krümmen gedachte. Leicht wäre es ihm ohnehin nicht gefallen, denn Abdullah war ein Glatzkopf. Er war außerdem winzig, verschmitzt – und erhaben. »Erhaben« in dem Sinn, in dem ihre Religionslehrerin im Internat das Wort so gern gebraucht hatte. Seine Erhabenheit vereinte, genau wie die von Issa, alles, was sich Annabel von einem moralischen Menschen wünschte: Reinheit im Geiste wie im Körper, einen Glauben an die Liebe als absoluten Wert sowie Anerkennung der Vielzahl der Wege, auf die wir zu Gott gelangen – oder welchen Namen wir IHM sonst geben mögen.
    Zwar wunderte es sie zugegebenermaßen, daß er an kaum einer Stelle auf die Schattenseiten des Islam in seiner

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