Marionetten
eine«, übernimmt er den Part des Verteidigers. »Er ist ein durch und durch authentischer, hochgebildeter Gelehrter. Er ist unbestreitbar streng gläubig. Er predigt den Weg des Friedens. Er glaubt aus ganzem Herzen daran, daß der gewaltsame Umsturz korrupter islamischer Regime gegen die Gesetze seiner Religion verstößt. Er hat kürzlich die Aussprüche des Propheten Mohammed neu ins Deutsche übertragen. Es ist eine hervorragende Übersetzung. Ich kenne keine bessere. Er lebt bescheiden und ißt Honig.« Niemand lacht. »Er ist ein leidenschaftlicher Honigesser. Unter Muslimen ist er für seine Honigleidenschaft berühmt. Muslime legen die Menschen gern auf bestimmte Rollen fest. Er ist ein Mann Gottes, des Korans und des Honigs. Aber leider ist er nach unseren Erkenntnissen auch ein Mann der Bombe. Beweisen können wir es nicht. Aber die Indizien sind mehr als überzeugend.«
Bachmann sieht verstohlen in die Runde. Honig, Gott und Bomben. Aller Augen ruhen auf dem soldatischen kleinen Professor, dem ehemaligen Freund des honigessenden Bombenlegers.
»Bis vor fünf Jahren trug er maßgeschneiderte Anzüge. Er war ein Dandy. Aber als er im deutschen Fernsehen aufzutreten und an öffentlichen Debatten teilzunehmen begann, änderte sich auch sein Kleidungsstil. Es war nun sein Wunsch, durch seine Bescheidenheit aufzufallen. Durch seinen enthaltsamen Lebenswandel. Das ist eine Tatsache. Was dahintersteckt, weiß ich nicht.«
Sein Publikum weiß es genausowenig.
»Sein ganzes Leben lang hat MEILENSTEIN sich aufrichtig darum bemüht, die Gegensätze zwischen den einzelnen Glaubensrichtungen in der Umma zu überwinden. Ich bin der Meinung, dafür gebührt ihm Bewunderung.«
Er zögert. Die meisten, aber nicht alle Anwesenden wissen, daß er mit Umma die religiöse Gemeinschaft aller Muslime meint.
»Er war im Vorstand von Hilfsorganisationen, wie sie unterschiedlicher und zerstrittener kaum sein können, um für die Zakat zu werben und ihn zu verteilen«, fährt er fort, wieder mit einem prüfenden Blick auf seine Zuhörer.
»Unter der Zakat versteht man die zweieinhalb Prozent des Einkommens, die jeder Muslim unter dem Gesetz der Scharia guten Zwecken zugute kommen lassen sollte, wie zum Beispiel Schulen, Krankenhäusern, Nahrung für Arme und Bedürftige, Stipendien für Studenten oder Waisenhäusern. Muslimischen Waisenhäusern. An den Waisenhäusern hängt sein Herz besonders. Für unsere Waisen, so hat MEILENSTEIN erklärt, ist er bereit, bis ans Ende seiner Tage unermüdlich um die ganze Welt zu reisen. Auch dafür gebührt ihm unsere Bewunderung. Der Islam hat viele Waisen. MEILENSTEIN selbst ist seit frühester Jugend Waise: ein Zögling strenger, sehr strenger Koranschulen.«
Doch dieses Engagement ist nicht nur zu begrüßen, wie Aziz’ gepreßter Ton deutlich macht:
»Ich möchte zu bedenken geben, daß Waisenhäuser eine der vielen Schnittstellen sind, wo soziale und terroristische Belange zwangsläufig aufeinandertreffen. Waisenhäuser sind Refugien für die Kinder der Toten. Unter den Toten sind Märtyrer, Männer und Frauen, die ihr Leben für die Verteidigung des Islam hingegeben haben, ob auf dem Schlachtfeld oder als Selbstmordattentäter. Es ist nicht die Aufgabe wohltätiger Spender, zu hinterfràgen, welchen speziellen Märtyrertod jemand erlitten hat. Ich fürchte daher, daß in diesem Zusammenhang Kontakte zu den Händlern des Terrors unvermeidlich sind.«
Hätte die versammelte Gemeinde verzückt amen gemurmelt, wäre Bachmann nicht überrascht gewesen.
»MEILENSTEIN ist ein unerschrockener Mann«, betont Professor Aziz, nun wieder in der Rolle des Verteidigers. »Bei der Verwirklichung seiner Lebensaufgabe hat er die Not seiner muslimischen Brüder und Schwestern in den ärmsten, ja, ich würde sagen, in den allerärmsten Weltgegenden gesehen. In den vergangenen drei Jahren ist er auf eigenes Risiko nach Gaza, Bagdad, Somalia, Äthiopien und in den Jemen gereist; er war auch im Libanon, wo er die Verwüstung, mit der Israel dieses Land überzogen hat, aus erster Hand miterlebt hat. Was ihn aber leider auch nicht entschuldigt.«
Er holt tief Luft, als ob er Mut tanken müßte, obwohl Mut nach Bachmanns Erinnerung das letzte ist, woran es Aziz mangelt.
»Die Frage, die sich in Fällen wie diesem für Muslime wie Nichtmuslime stellt, ist jedesmal wieder die gleiche. Immer vorausgesetzt, die überzeugenden Indizien sind korrekt: Tut ein Mann wie MEILENSTEIN ein klein wenig Gutes, um
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