Marionetten
Böses zu tun? Oder tut er ein klein wenig Böses, um Gutes zu tun? Meiner Einschätzung nach lag es immer in MEILEN-STEINS Absicht, Gutes zu tun. Fragt man ihn, unter welchen Umständen die Anwendung von Gewalt akzeptabel ist, wird er antworten, daß wir beim Thema Terror unterscheiden müssen zwischen der legitimen Auflehnung gegen eine Besatzungsmacht und offenem Terrorismus, den wir verurteilen. Die Charta der Vereinten Nationen erlaubt ausdrücklich den Widerstand gegen eine Besatzungsmacht. Diese Ansicht teilen wir, wie alle liberalen Europäer. Allerdings« – plötzlich scheint ihn Schwermut zu packen »allerdings lehren solche Fälle uns eines – und MEILENSTEIN bildet nach Lage der überzeugenden Indizien keine Ausnahme –, nämlich daß gute Menschen ein klein wenig Böses als notwendige Begleiterscheinung ihres Tuns akzeptieren. Bei manchen mögen es bis zu zwanzig Prozent sein. Bei anderen zwölf oder zehn. Bei wieder anderen vielleicht nur fünf. Aber fünf Prozent Böses können verheerend sein, selbst wenn die restlichen fünfundneunzig Prozent noch so gut sind. Sie kennen die Argumente. Aber in ihrem Kopf« – er tippt sich an den seinigen – »betrachten sie sie als unschlüssig. Der Terrorismus hat in ihrem Denken einen Platz, und dieser Platz ist nicht vollkommen negativ besetzt. Sie sehen in ihm« – schürft er in Abdullahs Gewissen oder in seinem eigenen? – »einen schmerzhaften, aber notwendigen Tribut an die große Vielfalt, die die Umma ausmacht. Leider ist das keine Entschuldigung. Aber ich würde sagen, es ist eine Erklärung. Vom Verstand her mag MEI-LENSTEIN noch so sehr davon überzeugt sein, daß sein Weg der richtige ist, aber er würde den Militanten niemals ins Gesicht sagen, daß sie auf dem falschen Weg sind. Weil er in seinem Herzen eben doch nicht sicher ist. Das ist sein unlösbares Paradoxon, und er steht nicht alleine damit. Denn suchen nicht alle wahren Gläubigen nach dem richtigen Weg? Und sind nicht Gottes Gebote in der Tat schwer zu begreifen? Vielleicht mißbilligt MEILENSTEIN das Vorgehen der Militanten zutiefst. Höchstwahrscheinlich sogar. Aber wie käme er dazu, zu behaupten, sie seien weniger fromm oder weniger von Gott geleitet als er – immer davon ausgehend, daß wir uns von den überzeugenden Indizien überzeugen lassen?«
Bachmann mustert erst Burgdorf, dann Martha, denn die amerikanische Top-Spionin und der deutsche Möchtegern-Geheimdienstzar haben genau den gleichen Blick – und sie haben ihn aufeinander gerichtet. Es ist ein ausdrucksloser Blick, der nichts preisgibt außer der Existenz eines schweigenden Einvernehmens. Der wachsame Lantern bemerkt den Blick auch und will mit von der Partie sein, weswegen er sich auf seinem Stuhl nach hinten lehnt, bis er Martha etwas in ihr juwelenbesetztes Ohr flüstern kann. Eine Reaktion ist ihren Zügen nicht zu entnehmen.
Falls Aziz diese Interaktion beobachtet hat, läßt er sich nichts anmerken.
»Wir müssen auch folgende Möglichkeit in Betracht ziehen«, fährt er fort. »Die Möglichkeit nämlich, daß MEILENSTEIN aufgrund seiner Herkunft und seiner ihm daraus entstandenen Beziehungen von seinen Glaubensbrüdern moralisch unter Druck gesetzt wird. So etwas kann passieren. Seine Kooperation wird nicht nur erwartet, sie wird eingefordert. ›Wenn du uns nicht hilfst, verrätst du uns.‹ Vielleicht wird MEILENSTEIN auch noch auf andere Weise genötigt. Er hat eine Exfrau und Kinder aus einer früheren Ehe, die er liebt und die in Saudi-Arabien leben. Wir wissen es nicht«, sagt er bestimmt und mit schmerzhafter Betonung. »Wir werden es niemals wissen. Vielleicht wird MEILENSTEIN selbst nie wissen, wie er zu dem wurde, was er ist – vorausgesetzt, er ist tatsächlich, was er ist.« Wie es klingt, rüstet er sich zu einem letzten Gefecht gegen ihr zu erwartendes Unverständnis. »Vielleicht möchte MEILENSTEIN lieber nicht wissen – oder weiß es tatsächlich nicht –, wohin die fünf Prozent gehen. Vielleicht weiß es keiner, bis hinunter zum letzten Glied in der Kette. Eine Moschee braucht ein Dach. Ein Krankenhaus braucht einen Anbau. Und durch Allahs Gnade und Barmherzigkeit findet sich ein Mittelsmann, der ihnen das Geld gibt. Aber die ärmsten Außenposten des Islam sind nicht gerade berühmt für ihre penible Buchführung. Deshalb kann der Mittelsmann genug Geld abzweigen, um auch noch den Sprengstoff für ein paar Bombengürtel zu kaufen.« Er hat eine letzte Botschaft. »Zu fünfundneunzig
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