Marissa Blumenthal 02 - Trauma
zeigte auf den Schrank. Wieder hörten sie es da drin klopfen. Beide Männer gingen auf dem Schrank zu. Der Schlüssel steckte. Während der eine zur Seite trat, drehte der andere den Schlüssel und riß die Tür auf. Im Schrank kauerte der Etagenkellner.
Die Sicherheitsbeamten mußten dem Kellner erst eine Zeitlang Mut zusprechen, ehe er sich ins Zimmer wagte.
Sowie ihm klar war, daß er sich außer Gefahr befand, begann er rasend schnell auf chinesisch zu reden.
Als der Kellner endlich schwieg, übersetzte der chinesische Beamte für seinen Kollegen: »Er sagt, der Mörder habe ihn mit vorgehaltener Waffe gezwungen, die Zimmertür aufzuschließen. Er sagt, der Mörder sei ein gweilo gewesen.«
»Sag ihm, er soll den Mörder beschreiben!« antwortete der Engländer. »Und frag ihn auch gleich, ob er ihn schon mal früher gesehen hat!«
Der chinesische Beamte sprach wieder auf den Zimmerkellner ein. Der ließ einen weiteren langen Wortschwall vom Stapel. Als er fertig war, teilte der Beamte den übrigen Anwesenden mit: »Er sagt, er habe ihn noch nie gesehen. Aber beschreiben kann er ihn nicht, weil für ihn alle gweilos gleich aussehen!«
Jemand rief von der Tür zu Nr. 606. Es war der diensthabende Geschäftsführer des Hotels. Die fünf Anwesenden traten durch die Verbindungstür und gingen dann auf den Flur.
Marissa war im Schockzustand. Tristan blieb an ihrer Seite, den Arm fürsorglich um sie gelegt. Von dem Augenblick an, als sie in dem Toten Robert erkannt hatte, hatte sie kein Wort mehr gesagt. Weinen konnte sie nicht. Sie fühlte nur eine eisige Kälte im ganzen Körper, als hätte jemand die Klimaanlage zu stark eingestellt.
»Die Polizei ist schon unterwegs«, sagte der Geschäftsführer nervös. Er war Italiener und sprach mit starkem Akzent. »Wo sind die Toten?«
Der chinesische Sicherheitsbeamte winkte dem Geschäftsführer, ihm zu folgen. Gemeinsam machten sie einen kurzen Rundgang. Als der Geschäftsführer zurückkam, hatte er Mühe, einige Sätze zu formulieren.
»Die Hotelleitung bittet Sie, diese Unannehmlichkeiten zu verzeihen«, sagte er stockend zu Marissa und Tristan. »Vor allem nach dem bedauerlichen Zwischenfall gestern.«
Der Engländer beugte sich vor und flüsterte dem Geschäftsführer etwas ins Ohr. Der riß erschrocken die Augen weit auf. Er schluckte schwer und setzte dann erneut zum Sprechen an.
»Es tut mir aufrichtig leid«, sagte er, zu Marissa gewandt. »Ich habe nicht gewußt, daß Sie das Opfer kannten. Mein herzliches Beileid.« Dann sagte er zu Marissa und Tristan: »Ich habe gerade mit der Polizei gesprochen, und sie sagten mir, daß Sie Ihre Zimmer nicht betreten dürfen. Es darf auch nichts angefaßt werden. Ich habe mir erlaubt, Sie für die Zwischenzeit in der Marco-Polo-Suite unterzubringen. Die Zimmer werden gerade gemacht. Wir werden Ihnen alles Notwendige wie Toilettensachen und so weiter zur Verfügung stellen.«
Eine Viertelstunde später begleitete man Marissa und Tristan in die Luxussuite. Marissa sank in einen Armsessel. Sie fühlte sich völlig ausgepumpt und war keiner Bewegung mehr fähig.
»Ich kann das einfach nicht fassen«, sagte sie nach einer Weile. Es waren ihre ersten Worte, nachdem sie Roberts Leiche gesehen hatte.
»Das ist doch alles unglaublich. Warum ist er hergekommen? Alles andere hätte ich erwartet, aber nicht das. Vor allem nicht nach unserem letzten Telefongespräch.«
»Was ist denn da vorgefallen?« fragte Tristan in der Hoffnung, sie zum Sprechen zu bringen. Er zog sich einen Sessel heran, nahm dicht neben ihr Platz und ergriff ihre Hände.
Da schüttete Marissa ihm ihr Herz aus. Bisher hatte sie gegenüber Tristan nie etwas über ihre Eheprobleme verlauten lassen. Jetzt gestand sie ihm, daß ihre Ehe ernstlich zerrüttet gewesen sei, besonders in den letzten Monaten.
Sie erzählte ihm, daß Robert sich nach Wendys Tod geweigert habe, nach Australien zu kommen. Er habe vielmehr von ihr verlangt, sie solle sofort zurückkehren. Daß Robert nun urplötzlich nach Hongkong geflogen war, passe überhaupt nicht zu seinem Charakter. Dann vergrub sie das Gesicht in den Händen. »Er ist meinetwegen hergekommen, eine andere Erklärung gibt es nicht.«
»Marissa«, sagte Tristan voll Mitgefühl. Es fiel ihm schwer auszudrücken, was ihm jetzt durch den Kopf ging. Doch er mußte offen mit ihr reden. »Du kannst dir keine Schuld an dem tragischen Geschehen geben. Natürlich liegt es nahe, daß du die Schuld bei dir suchst.
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