Marissa Blumenthal 02 - Trauma
kleinen Buchten, die es hier an der Küste gibt«, sagte Bentley. »Es ist eine Vorsichtsmaßnahme. Der Kapitän befürchtet, daß das Motorengeräusch, was wir hören, von einem Patrouillenboot der Volksrepublik stammt. Er sagt, ein Sampan oder eine Dschunke mit Motoren kann es nicht sein, dafür sind die Maschinen zu stark. Er sagt, wenn es kein Patrouillenboot ist, dann sind es Piraten.«
»O Gott!« sagte Marissa.
Als das fremde Boot sichtbar wurde, waren sie keine hundert Meter mehr von der Küste entfernt. Es war ein Zigarettenboot und schien genau auf sie zuzuhalten. Sie konnten es jetzt sehen, da der Nebel sich aufgelöst hatte.
Der Kapitän schrie wieder einen Befehl, und die beiden Matrosen verschwanden unter Deck. Als sie zurückkamen, brachten sie Sturmgewehre AK 47 mit und hatten sich Patronengurte über die Unterarme gehängt.
»Das gefällt mir nicht«, sagte Marissa. »Das gefällt mir ganz und gar nicht.«
Der Kapitän drehte sich zu ihnen um und brüllte irgend etwas. Bentley übersetzte. Der Kapitän hatte befohlen, daß alle außer seinen Matrosen unter Deck zu gehen hätten.
Sie beeilten sich zu gehorchen. Bentley schloß die Holztür, die aufs Vorderdeck führte, und gesellte sich dann zu Marissa und Tristan, die an der Einstiegsluke der Dschunke standen. Die Küste war jetzt im frühen Morgenlicht deutlich zu erkennen.
»Ist es ein Patrouillenboot aus China?« erkundigte sich Tristan bei Bentley. Von ihrem Standpunkt aus hörten sie genau, wie der Kapitän sich mit seinen Männern beriet und das Boot sich der Dschunke von Backbord näherte.
»Sie wissen es noch nicht«, sagte Bentley nervös.
Dann hörten sie, wie das Zigarettenboot längsseits der Dschunke kam. Drohend rumpelte der starke Motor. Gleich darauf hörten sie den Kapitän laut rufen.
»Er hat ihnen gesagt, sie sollen nicht näher rankommen«, übersetzte Bentley.
Zwischen dem Kapitän und den Leuten auf dem Zigarettenboot kam es zu einem lauten Wortgefecht. Die Stimmen klangen zornig. Die Auseinandersetzung ging weiter, und Marissa merkte, wie Bentley immer aufgeregter wurde.
»Was reden die da?« fragte sie.
»Das ist sehr eigenartig«, sagte Bentley. »Die Leute auf dem Zigarettenboot sagen, sie sind wegen der weißen Teufel gekommen.«
»Was sind weiße Teufel?« fragte Marissa.
»Tut mir leid, aber sie sprechen von Mr. Williams und Ihnen«, sagte Bentley. »Doch der Kapitän ist wütend, daß sie hergekommen sind und ihn in Gefahr bringen.«
Marissa packte Tristan am Arm. Der Streit an Deck wurde immer heftiger. Sie schauten in Bentleys Gesicht, konnten seiner Miene aber nichts entnehmen.
»Was ist jetzt los?« fragte Marissa nach einer Weile.
»Es hört sich nicht gut an«, sagte Bentley. »Der Kapitän hat befohlen, daß das Motorboot sich entfernen soll, aber die Leute weigern sich wegzufahren, wenn er Sie ihnen nicht ausliefert oder…«
»Oder was?« wollte Marissa wissen.
»Oder Sie werden erschossen!« sagte Bentley. »Es sind die Wing Sin.«
»Können Sie etwas unternehmen?« fragte Tristan.
»Im Moment kaum«, sagte Bentley kopfschüttelnd. »Gegen die Wing Sin kann ich nicht an. Der Kapitän hat mir ja außerdem gestern abend die Waffe abgenommen. Er hat gesagt, ohne seine Erlaubnis darf niemand bewaffnet aufs Boot.«
»O Gott!« rief Marissa wieder.
Tristan schaute zum kaum hundert Meter entfernten Strand hinüber. Er fragte sich, ob sie ihn schwimmend erreichen könnten. Aber in dem Augenblick, als ihm dieser Gedanke durch den Kopf ging, wurde die Holztür zum Vorderdeck mit einem scheppernden Fußtritt aufgestoßen. In der Tür stand einer der Männer des Kapitäns. Er sprach sehr schnell und wedelte dazu mit dem Sturmgewehr.
»Tut mir leid«, sagte Bentley, »aber er will unbedingt, daß Sie beide an Deck gehen. Ich bitte um Verzeihung.«
»Da Ihre Fähigkeiten als Leibwächter zur Zeit etwas beschränkt sind«, sagte Tristan zu Bentley, »können Sie uns vielleicht mit Ihren Fähigkeiten als Dolmetscher helfen. Sind Sie bereit, uns zu begleiten?«
»Wenn der Kapitän es gestattet«, sagte Bentley.
»Komm, meine Liebe!« sagte Tristan. »Das ist Hongkong, wo man alles kaufen kann. Mal sehen, ob wir nicht noch mit dem Kapitän ein Geschäft machen können.«
Nie im Leben hatte Marissa so viel Angst ausgestanden. Willenlos ließ sie sich von Tristan an dem Mann mit dem Sturmgewehr vorbei ins Licht des Morgens führen. Die Sonne hatte den Nebel fast völlig vertrieben. Es versprach, ein
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