Marissa Blumenthal 02 - Trauma
keinen Blick von Marissa.
»Er sagt, das Krankenrevier liegt gleich auf dem Wege«, berichtete Tse.
Die meisten Häuser in der Stadt waren entweder aus Holz oder aus Ziegelsteinen. Nur die Klinik war ein weiß angestrichener Betonbau mit einem Dach aus sonnengetrockneten Ziegeln. Durch eine niedrige Tür traten sie ein. Tristan und Bentley mußten sich dabei bücken.
Zuerst kamen sie in ein Wartezimmer, in dem hauptsächlich ältere Frauen waren. Manche hatten kleine Kinder bei sich. Ein Mann mittleren Alters hatte ein Bein im Gipsverband.
»Wenn Sie hier bitte warten würden«, sagte Tse, »werde ich mich inzwischen mit dem Arzt bekannt machen.«
Da auf den rohen Holzbänken, die um das Zimmer liefen, kein Platz mehr war, mußten Marissa, Tristan und Bentley stehen. Keiner der Wartenden sagte ein einziges Wort. Dafür starrten sie die drei offenen Mundes an, als wären sie außerirdische Wesen. Besonders neugierig waren die Kinder.
»Jetzt weiß ich, wie man sich als Filmstar fühlt«, sagte Tristan.
Tse kam wieder, begleitet von einem hochgewachsenen, hageren Chinesen, der ein kurzärmliges Hemd von westlichem Schnitt trug.
»Das ist Dr. Chen Chili«, sagte Tse. Dann stellte er die drei Dr. Chili vor.
Chili verbeugte sich lächelnd, entblößte dabei große gelbliche Zähne und sagte etwas in schnellem gutturalem Kantonesisch.
»Er heißt Sie in seiner Klinik willkommen«, sagte Tse. »Er sagt, der Besuch einer amerikanischen Ärztin und eines australischen Arztes ist eine Ehre für ihn. Und er fragt, ob Sie sich gern seine Einrichtungen ansehen würden.«
»Wie sieht es mit einer Fahrgelegenheit aus?« erkundigte sich Tristan.
»Die Klinik hat einen Kleinbus«, sagte Tse. »Der wird uns nach Shigi bringen. Er sagt, daß wir von Shigi aus mit dem öffentlichen Bus nach Forshan fahren können. Von da geht ein Zug nach Guangzhou.«
»Was nimmt er für die Fahrt im Kleinbus?« fragte Tristan.
»Nichts«, sagte Tse. »Wir fahren mit einigen Patienten, die ins Bezirkskrankenhaus eingewiesen werden.«
»Sehr schön«, sagte Tristan. »Dann wollen wir uns mal seine Klinik ansehen.«
Mit Chili und Tse an der Spitze machten sie einen Rundgang. Die Räume waren im großen und ganzen leer. Nur hier und da gab es einige rohe Möbel. Besonders nackt wirkte das Behandlungszimmer mit einem rostigen Stahltisch, einem Porzellanwaschbecken und einem alten Glasschrank mit Instrumenten.
Chili merkte, daß Marissa sich für den Instrumentenschrank interessierte, ging hin und öffnete ihn für sie.
Marissa zuckte zusammen, als sie die Zinnschale voller Nadeln erblickte, die von übermäßigem Gebrauch stumpf geworden waren. Das brachte ihr erst recht zu Bewußtsein, was alles sie in ihrer Praxis und im Boston Memorial für selbstverständlich ansah. Ihr Blick wanderte zum oberen Regal, auf dem Impfpackungen lagen, darunter ein in den Vereinigten Staaten hergestellter Impfstoff gegen Cholera. Dann bemerkte sie einige BCG-Fläschchen. Ihr fiel ein, daß Tse gesagt hatte, sie würden für Tuberkulose-Impfungen benutzt. Das erregte Marissas Neugier, weil die Wirksamkeit von BCG in den Vereinigten Staaten nie nachgewiesen worden war. Sie griff in das Regal, nahm eins der Fläschchen hoch und las auf dem Etikett, daß Frankreich das Herstellerland war.
»Fragen Sie Chili, ob er viele Tuberkulosefälle hat!« bat Marissa und stellte das BCG-Fläschchen wieder zurück. Während Tse mit dem Arzt sprach, warf sie einen Blick auf den übrigen Schrankinhalt.
»Nicht mehr als ich«, sagte Tse.
Marissa schloß den Schrank. »Fragen Sie ihn, ob Tbc auch bei Frauenkrankheiten auftritt!« sagte sie. Sie beobachtete Chilis Miene, als Tse ihm die Frage übersetzte. Es bestand ja immer die Möglichkeit, daß man auf unerwartete Dinge stieß. Doch Chilis Miene verriet ihr schon, daß seine Antwort negativ ausfallen würde. Und Tse sagte dann auch, derlei sei Chili noch nicht begegnet.
Danach kamen sie in ein Untersuchungszimmer. Auf einem Stuhl in der Ecke saß eine Patientin. Als die Gruppe eintrat, stand sie auf und verbeugte sich.
Marissa erwiderte die Verbeugung. Es tat ihr schon leid, daß sie hier eingedrungen war. Doch plötzlich stutzte sie. Mitten im Zimmer stand ein verhältnismäßig moderner Untersuchungstisch mit Fußstützen aus rostfreiem Stahl.
Der Anblick des Tisches brachte ihr alle die unangenehmen Behandlungen wieder ins Gedächtnis, die sie im Laufe ihres Fertilisationsprogramms zu erdulden gehabt hatte. Ein so
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