Marissa Blumenthal 02 - Trauma
die Blume zu verstehen geben, daß du auch daran denkst, dich vom Dach der Frauenklinik zu stürzen, wenn ich mich weigere, zu deinen Beratern zu gehen?«
»Nein!« widersprach Marissa hitzig. »Ich habe dir nur gesagt, was er mir berichtet hat. Die Frau und ihr Mann hatten Schwierigkeiten. Man empfahl ihnen Beratung. Sie gingen nicht hin. Anscheinend trennten sie sich danach, was einer der Gründe war, die die Frau überschnappen ließen.«
»Und eine Beratung hätte alle Schwierigkeiten beseitigt?« fragte Robert ironisch.
»Nicht unbedingt«, sagte Marissa. »Aber geschadet hätte sie bestimmt nicht. Ich komme allmählich zu der Ansicht, daß wir uns beraten lassen müßten, ob wir mit der IVF weitermachen sollen oder nicht.«
»Was soll ich dazu sagen?« antwortete Robert. »Ich habe kein Interesse daran, Zeit und Geld an einen Berater zu verschwenden. Ich weiß, warum ich aus dem Tritt gekommen und unzufrieden bin. Ich brauche keinen, der mir das erzählt.«
»Und du willst es nicht einmal versuchen?« fragte Marissa. Sie wagte nicht, »mit mir zusammen« zu sagen.
»Ich bin der Ansicht, daß der Gang zu einem Berater nicht der richtige Weg ist«, sagte Robert. »Man braucht kein Raketenforscher zu sein, um zu erkennen, was bei uns nicht stimmt. Was wir in den letzten Monaten durchgemacht haben, würde jeden zugrunde richten. Mit einigen Dingen im Leben muß man sich auseinandersetzen, mit anderen nicht. Und wenn wir nicht wollen, dann brauchen wir uns auch nicht länger mit dieser Therapie abzugeben. Ich für mein Teil möchte jedenfalls jetzt nichts mehr damit zu tun haben.«
»Nun, das reicht mir«, sagte Marissa verbittert. Sie stand auf und ließ Robert mit seinem geliebten Computer und dessen Ausdrucken allein. Einem erneuten Streit fühlte sie sich nicht gewachsen.
Wütend stampfte sie über den Flur, ging ins Schlafzimmer und warf die Tür hinter sich zu. Es sah so aus, als würde nichts besser werden, sondern nur noch schlechter.
4
20. März 1990
8.45 Uhr vormittags
Hochreaktive Ionen, genannt Hydronium-Ionen, im Grunde nichts anderes als mit Wasser chemisch verbundene Protonen, sägten sich durch die zarten Zellwände der vier im Entwicklungszustand befindlichen Embryos Marissas. Der überraschende Angriff der Hydronium-Ionen traf auf die ahnungslosen, mit Teilung beschäftigten Zellen. Diese mobilisierten ihrerseits Puffersysteme, um einige der zuerst eingetroffenen reaktiven Teilchen zu neutralisieren. Doch deren Überzahl bewirkte, daß der pH-Wert der Zellen zuerst langsam, dann schneller verfiel. Sie wurden säurehaltig. Und wo Säure in einer wasserhaltigen Nährlösung auftritt, entwickeln sich zwangsläufig neue Hydronium-Ionen.
Im tiefsten Inneren der Embryos waren DNA-Moleküle dabei, sich als Vorbereitung für die nächste Zellteilung zu vervielfältigen. Da sie selbst schwache Säuren darstellten, waren sie äußerst empfindlich gegen die Hydronium-Ionen, die sich mitten unter sie drängten. Der Teilungsvorgang wurde zwar fortgesetzt, jedoch unter Schwierigkeiten: auch die für die erforderlichen chemischen Reaktionen verantwortlichen Enzyme waren säureempfindlich. Bald traten Fehler bei der Vervielfältigung auf. Zuerst waren es nur kleine Irrtümer, die bei der verschwenderischen Fülle von Genen auf die Dauer unwesentlich geblieben wären. Aber als immer mehr Säureteilchen eingriffen, ergab sich bei der Vervielfältigung ganzer Gen-Pools ein völliges Kauderwelsch. Auch wenn die Zellteilung fortgesetzt wurde, war der Ausgang nur noch eine Sache der Zeit. Die Fehler waren bereits tödlich.
»Wie schön es ist!« rief Marissa. Es fiel ihr schwer zu glauben, daß sie ein Kind von sich leibhaftig im Anfangsstadium seines Lebens vor Augen hatte. In der klaren Trägerflüssigkeit erschien das Embryo, gerade im zweizelligen Zustand, transparent. Was Marissa jedoch nicht sehen konnte, war das Chaos, daß sich in dem Augenblick, da sie bewundernd durchs Mikroskop schaute, auf molekularem Bereich abspielte. Sie glaubte, den Beginn eines neuen Lebens zu beobachten. In Wirklichkeit wurde sie Augenzeugin der ersten Schritte zu seinem Tod.
»Erstaunlich, nicht wahr?« sagte der neben ihr stehende Dr. Wingate. Sie war heute morgen unerwartet gekommen und hatte gefragt, ob sie eins ihrer Embryos sehen dürfe. Zuerst hatte er ihre Bitte als unklug ablehnen wollen. Doch dann fiel ihm ein, daß sie Ärztin war, was es schwierig machte, sie abzuweisen, wenngleich er es
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