Marissa Blumenthal 02 - Trauma
auf Marissas Frage.
»Wirklich sehr schlecht. Sie ist todgeweiht. Ich glaube, daß sie höchstens noch einen Tag übersteht. Wir haben maximale Chemotherapie angewandt, aber das scheint überhaupt nicht anzuschlagen.«
»Ist es ganz bestimmt Tbc?« fragte Marissa mit einem Blick durchs Fenster auf das Bett der Frau auf der Intensivstation. Sie hing am Tropf und wurde zusätzlich künstlich beatmet. Bei ihr saß eine Kran-
kenschwester im langen Kittel mit Gesichtsmaske, um sie ständig zu überwachen. Schlangengleich hingen mehrere Leitungen von den Infusionsflaschen über ihrem Kopf herunter.
»Ohne Frage«, sagte Ben. »Wir haben überall bei ihr säurefeste Bazillen gefunden: bei der Magenspülung, im Blut, sogar im Bronchialgewebe. Ja, es ist unzweifelhaft Tbc.«
»Irgendwelche Hinweise auf eine epidemische Ursache des Falls?«
fragte Marissa.
»O ja«, sagte Ben. »Da haben sich einige interessante Tatsachen ergeben. Anscheinend hat sie vor ungefähr einem Jahr eine Thailandreise gemacht und ist mehrere Wochen dort geblieben. Das könnte ein Faktor sein. Aber was viel interessanter war, wir haben bei ihr eine Immunschwäche entdeckt. Die Jungs von der Blutuntersuchung sind noch damit beschäftigt. Bisher hält man es für die Folge einer Kollagene-Erkrankung. Das Ganze läßt sich vielleicht durch die Reise in Verbindung mit der Immunschwäche erklären.«
»Konnten Sie überhaupt schon mit ihr sprechen?« fragte Marissa.
»Nee«, sagte Ben. »Als man sie einlieferte, lag sie schon im Koma. Wahrscheinlich hatte sie Hirnabszesse. Wir waren der Ansicht, eine NMRoder CAT-Tomographie sei zu gefährlich.«
Zerstreut blätterte Marissa in dem dicken Band mit Tabellen und graphischen Darstellungen. Trotz der einleuchtenden Erklärungen für den Zustand der Patientin wurde sie das Gefühl nicht los, daß zwischen Evelyn Welles’ Tbc und den tuberkulösen Eileiterinfektionen ein Zusammenhang bestand. Dubchek hatte ja schon auf ihr Lebensalter und ihre gesellschaftliche Stellung hingewiesen.
»Hat man etwas über frühere Frauenkrankheiten erfahren?« fragte Marissa.
»Nicht viel«, gab Ben zu. »Angesichts der Schwere der Krankheit hat man Nebensächlichkeiten ziemlich vernachlässigt. Das meiste hat uns ihr Mann geliefert.«
»Wissen Sie, ob sie schon mal zur Untersuchung in der Frauenklinik in Cambridge war?« fragte Marissa.
»Darüber weiß ich nichts«, sagte Ben. »Aber ich frage gern mal ihren Mann. Er kommt jeden Abend gegen zehn her.«
»Falls sie mal in der Klinik untersucht worden ist, könnten Sie mir einen großen Gefallen tun und den Ehemann bitten, eine Kopie ihrer Krankenakte zu beschaffen«, sagte Marissa. »Und noch etwas. Könnten Sie einen Abstrich von ihren Vaginalsekreten machen und prüfen, ob sich darin auch Tbc-Organismen finden?«
»Sicher«, sagte Ben und hob die mageren Schultern.
Marissa zahlte den Taxifahrer vom Rücksitz aus, indem sie ihm das Geld durch den Schlitz in der Plexiglasscheibe zuschob. Es war jetzt dunkel und regnete noch stärker als vorhin, so daß sie nach dem Aussteigen in Laufschritt fiel, um nicht völlig durchgeweicht zu werden.
Im Haus zog sie den nassen Mantel aus und hängte ihn ins Wäschezimmer. Ohne die Küche zu betreten, begab sie sich sofort in ihr Arbeitszimmer. Sie hatte den ganzen Tag über nichts zu sich genommen, spürte aber nicht den geringsten Hunger. Trotz ihrer Erschöpfung wollte sie auch noch nicht schlafen gehen. Der Besuch im Krankenhaus und Evelyn Welles’ hoffnungsloser Zustand hatten sie zwar entsetzt, aber auch ihre Neugier erregt.
»Es ist gleich neun«, sagte Robert. Er war überraschend ins Zimmer getreten. Sie hatte ihn nicht kommen hören. Er stand auf der Schwelle, bequem angezogen, die Arme gekreuzt. Ton und Miene spiegelten seine übliche Verärgerung wider, wie sie zuletzt bei ihm an der Tagesordnung gewesen war.
»Ich weiß selber, wie spät es ist«, sagte Marissa, setzte sich hin und schaltete die Leselampe an.
»Du hättest aber anrufen können«, sagte Robert. »Zuletzt habe ich dich gesehen, als du vor dem Museum für Naturwissenschaften aus dem Wagen gesprungen bist. Ich war nahe daran, die Polizei zu verständigen.«
»Deine Fürsorge ist rührend«, sagte Marissa. Damit forderte sie wieder neuen Streit heraus, aber sie konnte nicht anders. »Im Fall, daß es dich interessiert, ich bin nicht schwanger.«
»Eigentlich habe ich auch nicht damit gerechnet«, sagte Robert in weicherem Ton. »Nun«, fuhr er
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