Mark
Morgen wieder treffen würde. So verging die Woche, und es waren nur
noch zwei Tage, die er zu Hause bleiben musste.
Nachdem er den Vormittag damit zugebracht hatte, die
Zeitung zu lesen und eine Kanne Kaffee zu trinken, hörte er wieder Carls
Roller.
Er stürmte zum Fenster. „He!“
Carl hatte sich trotz der Hitze eine Wollmütze über
die Haare gestülpt und seine Augen schwarz umrandet. Eigentlich sah man ihm
nicht an, dass er schwul war. Er erfüllte keinerlei Klischeevorstellungen, aber
er liebte es damit zu spielen. Zwar gab es auch Punks und alternative Männer, die
sich schminkten, ohne schwul zu sein, aber das wussten die meisten Dorfbewohner
nicht. Carl zog eine Flasche roten Nagellack aus der Hosentasche und begann,
sich die Nägel zu lackieren. Frau Krämer kam vorbei und gab dabei
unverständliche Flüche von sich.
„ Ich hab versucht, dich anzurufen.
Warum gehst du nicht ran?“
„ Ich habe Hausarrest, vergessen? Ich
darf nicht mit dir telefonieren.“
„ So ein Scheiß. Soll ich mal mit
deinen Alten reden und ihnen sagen, dass ich dich überredet habe, nach Berlin
zu fahren?“
„ Nein, das bringt nichts. Deshalb
wollen sie ja nicht, dass wir uns treffen. Außerdem sind es nur noch zwei
Tage.“
„ Ich hab mir gedacht, dass ich
vielleicht wieder nach Berlin fahr und da bleib.“
„ Wie? Bis wann?“
„ Na ja, was soll ich mit Abi, wenn
ich eine Ausbildung mache? Und wenn ich Tom nicht bald wiedersehe, weiß ich
auch nicht. Der wartet doch nicht, bis ich in einem Jahr wiederkomme.“
„ Aber du kannst ihn doch besuchen.“
„ Ja, ich weiß auch noch nicht.
Jedenfalls will ich jetzt erst mal wieder hinfahren. Jetzt hältst du mich für
bekloppt, oder?“
Daniel zuckte nur die Schultern. Die Wahrheit war,
dass er nicht wollte, dass Carl wegging, und dass er einfach neidisch war. An
seiner Stelle hätte er wohl dasselbe getan.
„ Daniel“, kam der mahnende Ruf
seiner Mutter vom Flur. „Du weißt genau, dass du keinen Besuch haben darfst.
Nur weil ich einmal eine Ausnahme gemacht habe, heißt das nicht, dass das jetzt
aufgehoben ist!“
„ Ich bin gleich weg“, rief Carl. Er
wedelte mit der linken Hand, um den Nagellack zu trocknen. „Dann musst du mich
wohl anrufen, wenn du keinen Hausarrest mehr hast.“
„ Ja. Und melde dich, wie’s läuft.
Schreib mir ne Mail. Sonst schick ich Frau Krämer zu dir.“
Carl grinste und winkte mit seinen roten
Fingernägeln. Erst jetzt bemerkte Daniel, dass Mark bei seinen direkten
Nachbarn in der Einfahrt stand und offenbar versuchte, den drei Kindern
klarzumachen, dass er sie jetzt nicht mehr mit der Schubkarre herumfahren
konnte. Hatte er etwa gehört, worüber sie geredet hatten? Wahrscheinlich, so laut,
wie Carl zu ihm hoch gerufen hatte. Er seufzte und sah Carl hinterher.
In der Nacht hatte es geregnet, und die Luft war
deutlich abgekühlt. Mark hatte sich auf einen großen Stein am Seeufer gesetzt,
und Daniel lehnte sich gegen eine Birke. Immerhin war Mark gekommen. Sie hatten
den ganzen Weg über nicht miteinander geredet.
„ Hast du jetzt keinen Hausarrest
mehr?“
„ Nein.“
„ Wieso sind wir dann so früh los?“
„ Weiß ich auch nicht.“ Es wurde ihm
erst jetzt bewusst. Er hatte sich tatsächlich an das frühe Aufstehen gewöhnt.
Wieder schwiegen sie eine ganze Weile. Erwartete Mark etwa, dass er etwas
erklärte?
Dann ergriff Mark doch das Wort. „Der Typ mit dem
Roller, ist das ein Freund von dir?“
„ Ja.“ Das war jawohl kaum zu
übersehen gewesen.
„ Geht er auch in unsere Stufe?“
„ Nein, er geht in die zehnte.“
Mark sah einigen Enten zu, die sich um ein Stück
schwimmendes Weißbrot stritten.
„ Und er hat einen Freund in Berlin?“
„ Ja.“ Sollte das jetzt ein Verhör
werden? Antworten Sie nur mit Ja oder Nein.
Aber die Frage, die er erwartete, kam nicht. Als er
es nicht mehr aushielt, stieß Daniel sich vom Baum ab. „Ich geh zurück.“
Mark folgte ihm, aber er sagte nichts mehr. Daniel wünschte
sich mit jedem Schritt mehr, dass er noch etwas gesagt hätte, dass er ihn
gefragt hätte. Dann hätte er sagen können, ob es für ihn ein Problem war oder
nicht. Vielleicht wollte er nur nicht unhöflich sein. Und Daniel verfluchte
sich, dass er sich nicht traute, es auszusprechen.
Sie waren in ihrer Straße angekommen. Daniel wollte
gerade zu seinem Haus einbiegen.
„ Wenn du jetzt keinen Hausarrest
mehr hast, kannst du mich auch mal besuchen, oder?“, fragte
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