Mark
Daniel?“ Seine Mutter hatte die Tür
geöffnet, ohne eine Antwort abzuwarten.
Daniel warf ihr von seinem Bett aus einen finsteren
Blick zu.
„ Liegst du immer noch im Bett? Es
ist schon nach Mittag. Du weißt, dass du jetzt wieder raus darfst?“
„ Aber ich muss nicht rausgehen,
oder?“
„ Nein, aber ich dachte, du wolltest.
Vielleicht ...“ Sie hielt inne. „War es zu lang? Vielleicht hast du dich zu
sehr daran gewöhnt, hier drin zu sein.“
„ Ich habe noch eine Woche Ferien, da
kann ich wohl machen, was ich will, oder?“
Seine Mutter seufzte. „Aber dann iss wenigstens
Mittag.“ Sie schloss die Tür.
Daniel rührte sich nicht. Er wollte nicht aufstehen,
nie mehr. Er war nicht mehr wütend. Er hatte keine Kraft, wütend zu sein. Sein
ganzer Körper war zu schwer, genau wie sein Geist. Es war einfach unmöglich,
sich zu bewegen. Immer wieder bildeten sich Sätze in seinem Kopf, die anfingen
mit: Hättest du nur nicht ... Wie konntest du nur so dumm sein ... Und: Wie
kann er nur so dumm sein ...
Es wäre wesentlich einfacher gewesen, hätte er
länger wütend sein können. Aber dann sah er Mark vor sich, und er erschien ihm
dadurch, dass er einmal etwas Falsches getan hatte, einmal gezeigt hatte, dass
er auch nicht perfekt war, nicht weniger liebenswert. Ja, das war er. Er war so
freundlich, zuvorkommend, verständnisvoll, so konnte kein Mensch wirklich sein,
zumindest nicht immer. Wie sollte er ihm das vorwerfen? Wie sollte er ihm das
vorwerfen, bei seinen Eltern, bei allem, was er glaubte? Gut, er hatte gesagt,
dass er einiges übertrieben fände. Aber auch, wenn er nicht religiös gewesen
wäre, wie sollte er da anders sein, als die meisten Menschen? Aber sollte er
versuchen, Mark dafür zu hassen, dass er zuerst so getan hätte, als wäre es ihm
egal? Immerhin hatte Mark es schließlich versucht.
Am nächsten Tag ging er wieder raus und fuhr mit dem
Fahrrad bis zu der Mühle im Wald, die ein beliebtes Ausflugsziel war. Aber
obwohl es gut war, nicht mehr in der Nähe von Marks Haus zu sein, dachte er
beim Radfahren viel zu viel nach.
Als Janina am Abend zu ihm kam und ihm erneut von
ihren Urlaubsaffären erzählte, war er schon so weit, dass er beschloss, dass es
das Beste war, nicht mehr nachzudenken und sich abzulenken.
Das Problem war, dass er Mark jeden Tag in der
Schule sehen würde. Als es so weit war und sein letztes Schuljahr begonnen
hatte, stellte er jedoch mit Erleichterung fest, dass er nicht allzu viele
Kurse mit Mark zusammen hatte. Mark hatte alle naturwissenschaftlichen Fächer,
Matheleistungskurs und Geschichte gewählt. Und er selbst Kunst, Deutsch,
Gemeinschaftskunde und Philosophie. Sowie den Grundkurs in Mathe, Geographie
und Biologie. Nur Sport und Englisch hatten sie zusammen.
Mark war nicht mehr zu ihm gekommen. Sie hatten kein
Wort mehr miteinander gesprochen. Am Anfang hatte er noch die leise Hoffnung
gehabt, dass er es tun würde, dass er sagen würde, sie könnten ja trotzdem
Freunde sein. Aber sie wussten beide, dass es nicht ging. Es war, als hätten
sie sich nie gekannt.
Keiner seiner Mitschüler hätte ihm geglaubt, wenn er
gesagt hätte, dass er Mark zwei Wochen fast täglich gesehen hatte. Natürlich
mochten sie ihn alle. Arne und Max, Natascha und Hanna. Es gab praktisch
niemanden, der ihn nicht mochte.
Janina hatte ihm ein paar Mal gesagt, dass er doch
zu Mark gehen sollte, dass sie wenigstens noch einmal miteinander reden
sollten. Aber er konnte es nicht, und er fand, dass es nicht an ihm war. Je
länger sie nicht miteinander sprachen, desto unmöglicher wurde es.
Er dachte einfach an den letzten Film, den er
gesehen hatte, wenn er im Englisch-Unterricht saß und Mark einige Plätze vor
ihm.
Er war selbst erstaunt, als er feststellte, dass
schon Wochen vergangen waren und dass es funktionierte – solange er nicht
nachdachte. Solange er nicht versuchte, sich daran zu erinnern, wie Mark roch
und wie sich Marks Haut anfühlte und wie es war, einfach neben ihm zu sitzen
und ihm zu erzählen, was er machte, und das Gefühl zu haben, dass er ihm
wirklich zuhörte.
Manchmal hatte er das Gefühl, dass Mark irgendwo auf
dem Schulhof stand und ihn ansah. Manchmal stimmte es.
Dann wünschte er sich so sehr, dass Carl da wäre. Er
war nicht wiedergekommen. Er schrieb E-Mails, immer das Gleiche. Tom war
wunderbar. Berlin war herrlich, nur manchmal würde er tatsächlich die
Überschaubarkeit ihres Dorfes vermissen. Carl hätte ihm ausreden können,
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