Marlene Suson 1
sie.
Es fuchste Jerome unendlich, daß sie glaubte, sein Besuch gelte ihr. Doch da der wahre Grund geheim bleiben mußte, konnte er diesen Irrtum nicht aufklären.
Ihre grüne Brokatrobe war so tief ausgeschnitten, daß das Mie- der ihre vollen Brüste kaum halten konnte. Es war ein Kleid, wie eine Dame es normalerweise nicht zum Dinner in ihrem eigenen Haus trug.
Allerdings bezweifelte Jerome stark, daß Sophia eine Dame war. Kein Mensch in London hatte je von ihr gehört, bis sie Sir John Creswell, einen ältlichen, gesellschaftlich jedoch hochran- gigen Mann heiratete. Sir John war ein knappes Jahr nach der Hochzeit gestorben. Seine Witwe hatte ihn nicht lange betrauert. Schon vier Monate später heiratete sie Alfred Wingate.
Aus reiner Neugier fragte Jerome im Plauderton. „Sind Sie aus Yorkshire gebürtig, Mrs. Wingate?‚
„Nein.‚ Ihre Stimme hatte plötzlich einen scharfen Unterton.
„Sondern?‚ Er ließ nicht locker.
Sophia zögerte, als müßte sie überlegen, und sagte dann: Cornwall.‚
Jerome unterdrückte ein Lächeln, denn sie hatte eine Gegend gewählt, die möglichst weit von Yorkshire entfernt lag. Er glaubte nicht, daß sie die Wahrheit sagte. Er hatte ein feines Gehör und konnte in ihrer Aussprache auch nicht die leiseste Spur eines cornischen Akzents entdecken.
„Von wo in Cornwall?‚
„Aus . . . aus einer entlegenen Kleinstadt in der Nähe von Land’s End.‚
„Wie heißt sie?‚
Wieder zögerte sie. Jerome war sicher, daß sie fieberhaft nach irgendeinem Ortsnamen in Cornwall suchte. Schließlich sagte sie: „West Curry.‚
Seine geographischen Kenntnisse waren entschieden besser als ihre. West Curry lag nicht im Südwesten von Cornwall, in der Nähe von Land’s End, sondern ganz im Norden. Die Wahrheit über Sophias Herkunft mochte womöglich das Interessanteste an dieser Frau sein.
Jerome sah sich im Raum um und musterte die anderen An - wesenden. Zwei ihm unbekannte Paare mittleren Alterns unter- hielten sich auf der anderen Seite des Salons.
Alfred Wingate, Sophias Gemahl, stand am Kamin und sprach mit dem mageren strohblonden Jüngling, der geholfen hatte, Fer - ris aus dem Fluß zu ziehen. Bestürzt stellte Jerome fest, w ie stark Alfred gealtert war, seitdem er ihn zum letztenmal gesehen hatte. Sein dunkles Haar war weiß geworden, und er schien zu einem ängstlichen, gebeugten Greis zusammengeschrumpft zu sein.
Als die Tür sich öffnete, hoffte Jerome, Lady Rachel zu sehen. Statt dessen tänzelte Lord Felix Overend, der Sohn des Marquess of Caldham herein. Angewidert kräuselte Jerome die Lippen. Fe - lix war sowohl ein Stutzer als auch ein Dummkopf, und beides konnte Jerome nicht ausstehen.
Er hatte geglaubt, gegen Lord Felix’ farbenprächtige Auftritte inzwischen gefeit zu sein, aber an diesem Abend hatte der Geck sich selbst übertroffen. Sein kanariengelber Satinrock, zu dem er gleichfarbene Hosen trug, war verschwenderisch mit Silber - knöpfen und Brillanten besetzt. Brüsseler Spitze ergoß sich in wahren Kaskaden von seinen Handgelenken. Seine weiße Weste und die gelben, hochhackigen Schuhe waren mit Blumenbuketts bestickt.
Felix liebte es, sich selbst und seine Umgebung zu schmücken. Seine Pferde und Kutschen mußten stets die p rächtigsten und
seine Kleider die ausgefallensten sein. Er genoß es, Aufsehen zu erregen, und war schlicht zu beschränkt, um den Unterschied zwischen bewundernden und schockierten Blicken zu erkennen.
Er kam gleich auf Sophia und Jerome zu. Trotz seiner hohen Absätze war Felix um einiges kleiner als der Herzog. Jeromes Nase kräuselte sich, als der penetrante Moschusduft ihn einhüllte. Felix mußte in dem widerlichen Parfum gebadet haben.
Jerome verabscheute Moschus.
Und Lord Felix.
Als Caldhams zweiter Sohn hatte Felix von seinem Vater finan- ziell nichts zu erwarten, doch er war der erklärte Liebling seines Großvaters mütterlicherseits gewesen. Der war gestorben, als Fe- lix sechs war, und hatte ihm sein enormes Vermögen vermacht. Jerome war sicher, daß der alte Herr sein Testament geändert hätte, wenn er noch erlebt hätte, was aus seinem Lieblingsenkel geworden war.
„Habe von Ihrem Besuch gehört, Westleigh, wollte es aber kaum glauben‚, sagte Felix mit seiner hohen, quäkigen Stimme. „Viel zu hoch im Norden für Seine Gnaden, habe ich mir gesagt.‚ Die Brillanten an seinem Rock, seinen Fingern und den Schnallen an seinen Kniehosen und Schuhen blitzten um die Wette.
Abgestoßen von diesem
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