Marlene Suson 2
anderen Siedlern zurückgegeben hatte.
Und sie wußte, daß er alles in seiner Macht Stehende tun würde, um sein Versprechen zu halten. Sie lächelte zu ihm auf.
„Oh, Megan“, stöhnte er und küßte sie mit einer verzweifelten Inbrunst. Im silbrigen Mondlicht hielten sie sich eng umschlun- gen und klammerten sich aneinander, als wären sie die einzigen Menschen auf der Welt.
Später, als sie weitergingen, fragte Meg: „Wozu diente dieses Haus, zu dem wir jetzt gehen?“
„Mein Großvater hat es für einen ganz besonderen Zweck bauen lassen.“
„Und zwar?“
„Die Antwort wird dir nicht gefallen.“
„Sag es mir trotzdem.“
„Er brachte dort seine Mätressen unter, wenn er sich gelegent- lich auf Wingate Hall aufhielt.“
Stephen hatte recht behalten. Meg war von der Antwort ganz und gar nicht erbaut. Es erinnerte sie daran, wie leichtfertig ihr Mann und die Engländer allgemein sich über das Ehegelübde hinwegsetzten. Wie konnte sie Stephen seine Einstellung zum Vorwurf machen, wenn Treulosigkeit an der Tagesordnung war? Zumal ja auch Sein eigener Großvater diesem Laster gefrönt hatte!
Ihr Gesichtsausdruck schien ihre Gedanken widerzuspiegeln, denn Stephen griff nach ihrer Hand und drückte sie. „Keine Angst, Megan, ich werde das Haus bestimmt nicht zu diesem
Zweck nutzen. Mein Vater hat es schließen und vernageln lassen, und ich werde das bestimmt nicht ändern.“
„Weshalb hat er es schließen lassen?“
„Er hatte keine Verwendung dafür. Er liebte nur meine Mut- ter.“ Stephen lächelte ihr zu und verstärkte den Druck seiner Hand. „So wie ich nur dich liebe, Megan.“
Trotz ihrer ausweglosen Lage wurde ihr das Herz weit.
Ihr Weg führte durch einen dichten Mischwald, in dem Eichen, Platanen und Ulmen einander abwechselten. Meg schätzte, daß sie schon über eine halbe Stunde unterwegs waren, als Stephen sagte: „Das Haus liegt direkt vor uns.“
Sie traten in eine kleine Lichtung hinaus. Vor ihnen erhob sich ein stattliches Gebäude aus grauem Schiefer. Sie näherten sich ihm von der Seite, und Meg entdeckte ein kleineres Gebäude – offenbar ein Stall – hinter dem Haupthaus.
Sie blinzelte überrascht, als sie feststellte, daß das Haus durch- aus nicht geschlossen war, wie Stephen gesagt hatte. Rauch kräuselte sich über dem Schornstein, und helles Licht fiel aus den Fenstern, von denen eines halb offenstand.
Sie hörte Stephens unterdrückten Fluch und dann seinen Ausruf: „Was, zum Teufel ...“
24. KAPITEL
Ungläubig starrte Stephen auf das Haus. Er war davon ausge- gangen, daß es noch immer geschlossen war. Sein Vater hatte bis zu seinem Tode nicht erlaubt, das Haus wieder zu benutzen, weil er darin ein steinernes Mahnmal für die Untreue seines eigenen Vaters sah.
Stephen hatte auch nach dem Tode seines Vaters nichts unter- nommen, um etwas an dem Zustand zu ändern. Er konnte nicht glauben, daß Rachel es getan hatte. Blieb nur noch Wingate Halls neuer Besitzer. „Westleigh muß befohlen haben, das Haus wieder zu öffnen.“
Stephen fragte sich verwundert, wen der Herzog hier wohl einquartiert haben mochte. Für einen Landarbeiter war es zu groß und für Gäste des Herzogs zu weit vom Herrenhaus ent- fernt.
Im Mondlicht sah er, daß Megans Gesicht von Müdigkeit und Hunger gezeichnet war. Sie sah aus, als könnte sie keinen Schritt mehr weiter. Hinzu kam, daß es immer kälter wurde. Sie brauchten dringend eine Unterkunft für die Nacht.
„Ich . . . ich weiß nicht, was wir jetzt tun sollen.“ Stephen brachte es kaum über sich, das einzugestehen. „Wer immer sich im Haus aufhält, vielleicht kann ich ihn überreden, uns für die Nacht bei sich aufzunehmen.“ Er legte Megan die Hand auf den Arm. „Bleib hier, während ich mit ihm spreche. Komm auf keinen Fall näher zum Haus, bevor ich dich rufe. Man kann nie wissen, wie die Bewohner auf einen so späten Gast reagieren.“
Es war eine harte Nuß für Stephen, wie ein Bettler an die Tür eines Hauses zu klopfen, das ihm einst gehört hatte und ihm von Rechts wegen immer noch gehören müßte. Doch für Megan würde er alles tun, so sehr es seinen Stolz auch beuteln mochte. Er war seines Geburtsrechts beraubt worden wie auch jeder Möglichkeit, angemessen für seine Frau zu sorgen. Sie hatte etwas Besseres
verdient. Er dachte an die Versprechungen, die er ihr gemacht und dann ohne sein Zutun gebrochen hatte, und hilfloser Zorn wallte in ihm auf.
Er ließ Megan am Waldrand zurück und ging
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