Marlene Suson 3
Morgan die Worte hätte verstehen können.
„Was macht sie da?“ fragte Elizabeth.
Bevor Morgan antworten konnte, hatte sie offenbar begriffen, was da vorging, denn sie keuchte auf und schlug die Hand vor den Mund. „Mir wird übel!“ stieß sie mit schriller Stimme hervor. Man merkte ihr an, daß sie am Rande eines hysterischen Anfalls stand. „Bitte, helfen Sie mir ins Haus, Lord Morgan.“
Morgan wäre lieber bei Daniela und Freddie geblieben, doch ihm war klar, daß er den beiden keinen besseren Dienst erwei- sen konnte, als Elizabeth aus dem Weg zu schaffen. Oh, wie er hysterische Frauen verabscheute!
Morgan führte Elizabeth ins Haus. „Nein, wirklich, es ist mir unbegreiflich, wie Lady Daniela es fertigbringt, mit einer Nadel ...“ Sie schüttelte sich.
„Die Wunde heilt so viel schneller“, erklärte er.
„Das ist ja ekelhaft! Wenn ich nur daran denke, dreht sich mir der Magen um. Diese Frau kann wirklich keine Spur Zartgefühl haben.“
Und Morgan hatte keine Geduld mit hysterischen Frauen. Ihm war bislang noch nicht aufgefallen, daß Lady Elizabeth zu dieser Kategorie gehörte. Aufatmend überließ er sie der Obhut ihrer Zofe.
An diesem Tag hatte Morgan Lady Elizabeth von einer ganz anderen Seite kennengelernt. Jetzt wußte er, daß sie keinesfalls wie Rachel war. In bezug auf Schönheit, vielleicht, doch eindeutig nicht, was Geist und Charakter betraf.
Sein Zweifel, der ihn davon abgehalten hatte, sich ihr zu erklären, war wohlbegründet gewesen.
Nachdem Daniela Freddies Bein genäht und versorgt hatte, ging sie erschöpft hinauf in ihr Zimmer. Obwohl sie sich dem Jungen
gegenüber munter und zuversichtlich gegeben hatte, war ihr in Wirklichkeit angst und bange gewesen. Sie hatte insgeheim be- fürchtet, der Junge könnte sterben, wenn sie die Blutung nicht rechtzeitig zum Stillstand brachte.
Zum Glück hatte Morgan ihr geholfen und den Verband fest angezogen. Es hatte sie überrascht, daß er sofort bereit gewe- sen war, dem kleinen Freddie zu helfen. Basil oder einer seiner Freunde hätten sich gewiß nicht dazu herabgelassen, ein Kind auch nur zu berühren, das in ihren Augen nur ein „Pächterbalg“ war.
Daniela hatte Morgans Behauptung, Gentleman Jack zu sein, für eine dreiste Lüge gehalten. Jetzt jedoch kamen ihr leise Zweifel. Die Vorstellung, daß ein Mann seines Rufes ihr heimlicher Held sein könnte, war ihr zwar verhaßt, doch er bewies ihr stets aufs neue, daß er sich von seinen aristokra- tischen Standesgenossen in vielen Dingen grundlegend unter- schied.
Sie öffnete die Tür zu ihrem Zimmer. Zwei Mädchen waren gerade dabei, heißes Wasser in einen großen Zuber zu schütten. Daniela konnte es kaum erwarten, sich bei einem langen, heißen Bad zu entspannen.
„M’lady!“ rief eines der Mädchen bei ihrem Anblick er- schrocken. „Ihr Kleid ist ja ganz blutig. Das ist hin.“
Daniela schaute hinab auf die großen rötlichbraunen Flecken, die über ihr ganzes Kleid verteilt waren. Was kümmerte sie das Kleid! Wichtig war nur, daß Freddie am Leben bleiben würde.
Als die Mädchen gingen, trug Daniela ihnen auf, der Köchin auszurichten, daß sie in ihrem Zimmer essen würde. Die Angst um Freddie hatte sie so mitgenommen, daß sie nicht mehr die Kraft hatte, sich anzukleiden und zum Dinner hinunterzuge- hen.
Rasch zog Daniela sich aus und stieg ins Wasser. Sie blieb in der Wanne liegen, bis das Wasser allmählich kalt wurde. Als sie sich fertig abgetrocknet und ihren Morgenrock angezogen hatte, fühlte sie sich schon viel besser. Jetzt merkte sie auch, wie hungrig sie war. Sie klingelte nach einem Hausmädchen, um zu erfahren, wo eigentlich ihr Essen blieb.
„Seine Lordschaft hat verboten, daß die Köchin ein Tablett raufschickt. Er sagt, Sie müssen runterkommen und im Eßzim- mer mit den anderen essen.“ Das Mädchen senkte die Stimme
zu einem Flüstern. „Aber die Köchin sagt, wenn Sie runter in die Küche kommen, gibt sie Ihnen was zu essen. Das hat Seine Lordschaft ja nicht verboten.“
Wollte Basil sie nur wieder schikanieren, oder hatte er einen besonderen Grund dafür, daß sie beim Dinner erscheinen sollte? Aufseufzend schlüpfte Daniela in ein schlichtes Kleid und lief hinunter zur Küche.
Als sie dort ankam, stellte die Köchin, eine grauhaarige, mütterliche Frau, einen randvollen Teller vor sie hin.
Nachdem Daniela gegessen hatte, bedankte sie sich bei der Köchin. „Ich hoffe, Sie bekommen keinen Ärger mit meinem Bruder, weil Sie mir
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