Marlene Suson 3
soll ein sehr ausgedehnter Ritt werden, nicht wahr? Ich fürchte aber, Mylady, Sie müssen hierbleiben.“
„Willst du uns schon wieder verlassen, Daniela?“
Ihr Herz setzte aus, als Morgan neben ihr auftauchte und sie mit festem Griff an sich zog.
„Wie unhöflich von dir, abzureisen, ohne dich bei meinem Bruder und meiner Schwägerin für die Gastfreundschaft zu bedanken.“ Die Härte in Morgans Augen widersprach seinem ironischen Ton.
Bartstoppeln bedeckten sein Gesicht, und Daniela unter- drückte den unsinnigen Wunsch, mit den Fingern über seine Wange zu streichen.
„Wieso darf ich nicht ausreiten?“ Sie versuchte, ihre Ent- täuschung über die vereitelte Flucht hinter vorgetäuschter Em- pörung zu verbergen. „Du weißt doch, wie gern ich morgens ausreite.“
„Aber mein Bruder würde es nicht dulden, daß einer seiner weiblichen Gäste allein und ohne Schutz ausreitet.“ Morgans Ge- sichtsausdruck wurde grimmig und seine Stimme hart. „Erspar dir und den Stallburschen den Ärger, den du heraufbeschwörst, wenn du gegen Jeromes Verbot verstößt. Du wirst den Weg ohne- hin versperrt finden, und zwar zu jeder Tages– und Nachtzeit.“
„Verstehst du denn nicht?“ rief Daniela verzweifelt. „Die Leute verlassen sich auf mich. Besonders die Familien der Grubenar- beiter brauchen meine Hilfe. Ich kann sie doch nicht im Stich lassen!“
„Herrgott, Daniela, sind die Leute dir wichtiger als dein eigenes Leben?“
„Mein Leben ist nicht in Gefahr.“
„Nein? Und woher willst du das Geld nehmen, um den Leuten zu helfen?“
Als sie verstockt schwieg, verzog Morgan den Mund zu einem ironischen Lächeln. „Das habe ich mir gedacht.“
„Wenn sie verhungern, bist du dafür verantwortlich!“
„Sie werden nicht verhungern. Ich schicke ihnen Geld, wenn du versprichst hierzubleiben.“
„Und ich verdopple den Betrag, wenn Sie dieses Versprechen geben.“ Jerome trat zu ihnen. „Ich schlage vor, Sie akzeptieren unser Angebot, denn damit wäre die Hilfe für Ihre Schützlinge sofort gesichert. Wenn Sie nach Ihren Plänen vorgehen würden, könnte es noch eine Weile dauern.“
Daniela mußte zugeben, daß die beiden recht hatten. „Also gut. Ich bleibe hier, wenn Sie Ihre Zusage einhalten.“
„Ich schicke Ferris noch heute mit einer beträchtlichen Summe los“, versprach Jerome.
Daniela eilte durch den Seitenflügel, in dem Morgans Refugium lag. Sie summte eine Melodie vor sich hin, die Jerome gestern abend auf der Gitarre gespielt hatte.
Sie war nun schon neun Tage auf Royal Elms, und es war die glücklichste Zeit ihres ganzen Lebens gewesen. Der Herzog und die Herzogin gaben Daniela das Gefühl, als gehörte sie zur Familie.
Wenn das nur wahr wäre, dachte sie sehnsüchtig.
Nachdem Jerome und Morgan das versprochene Geld auf den Weg gebracht hatten – es war mehr, als „Gentleman Jack“ bei drei oder vier Überfällen erbeutet hätte – , war Daniela nur zu
gern auf Royal Elms geblieben. Sie hatte keinen Fluchtversuch mehr unternommen, denn die Familien der Grubenarbeiter und die anderen Menschen daheim in Warwickshire, die auf ihre Hilfe hofften, waren gut versorgt.
Ferris hatte das Geld zum Pfarrer gebracht, und der wollte es nach Danielas Anweisungen verteilen. Sie legte unwillkürlich die Hand auf die Tasche in ihrem Rock. Darin steckte der Brief von Nell Briggs, der vor einer Stunde angekommen war. Nell be- richtete, mit welcher Dankbarkeit das Geld empfangen worden war.
Daniela klopfte an Morgans Tür. Seine tiefe, volltönende Stimme ließ Danielas Herz schneller schlagen, als er „herein“ rief.
Bei ihrem Eintritt erhob er sich aus dem Stuhl vor dem Ma- hagonischreibtisch und sah sie fragend an. Er hatte Jabot und Rock abgelegt. Sein weißes Rüschenhemd stand am Hals offen und gab den Blick auf seine gebräunte Haut frei. Er wirkte so un- widerstehlich, daß Daniela im ersten Augenblick völlig vergaß, weshalb sie gekommen war.
Dann fiel es ihr wieder ein, und sie streckte ihm das Buch von Bellers entgegen. „Das wollte ich dir nur zurückbringen. Wes- halb interessierst du dich eigentlich so für soziale Probleme?“ Sie hatte ihm diese Frage schon vor neun Tagen gestellt, doch da war er ihr ausgewichen. Diesmal würde sie nicht lockerlassen.
„Ich habe die letzten beiden Jahre damit verbracht, eine Mo- dellkommune zu entwerfen, die eine produktive und humane Alternative zu dem Elend der Armenhäuser bieten soll.“
„Ist das dein Ernst?“ fragte
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