Mars Live
unter ihnen die Oberfläche enthüllte, stieg der Mars so vollkommen wie neu geschaffen über den Horizont: tief gefurchte Landschaften in einer unglaublichen Vielfalt von Rottönen bis zu geheimnisvollen, trüben, beinah-blauen Nuancen; niedrige Gipfel und verschlungene Flußbetten mit der Erinnerung an Wasser; geschichtete Berge, von dünnem Dioxidschnee bekrönt.
Es war wie ein Traum. Doch es war kein Traum, er lag erwachend da.
Der Kater Ahab weckte ihn vollends auf. Und der Traum war immer noch da. Die Dame Mars hatte ihre Gewänder abgelegt und lag unbekleidet vor ihm, und ihre atemberaubende Schönheit übertraf all seine Vorstellungen. Im Norden war das bläuliche Eis des Pols und bildete Wolken, wo es mit den Zyklonen des Mars-Hochsommers zusammentraf. Im Süden war der andere Pol hinter der glatten Schulter des Planeten versteckt. Direkt unter ihm waren die Vulkane des Mars, und dahinter, im Westen, die Valles Marineres, viermal so tief wie der Grand Canyon, so lang wie ein Kontinent und hundertfünfzig Kilometer breit. Jeffries sah die Schattierungen von Rot und Gelb und Purpur und sogar Blau an den an den immer noch dunklen Wänden der Schluchten, die sich unter ihm abrollten; zuerst die labyrinthartigen Chasmen von Candor und Hebes, wo sie zu landen beabsichtigten; dann der eintausendfünfhundert Kilometer lange Coprates-Graben; dann eine weitere eintausendfünfhundert Kilometer lange Schlucht, als die Mary Poppins den Tag im Wettrennen mit Phobos überholte und der Planet unten erneut in die Dunkelheit abtauchte. Jeffries mußte wohl geschlafen haben, denn seinem Gefühl nach schienen nur einige Augenblicke vergangen zu sein, als die Morgendämmerung den Dunst am Horizont erneut färbte. Er blickte hinab auf mondartige Ebenen, westlich des Tharsis-Gebiets. Selbst in der Dunkelheit konnte er das Argyre-Becken sehen, mit seinen tiefen, kurvigen Erinnerungen an Flußläufe, die sich in den Sand eingraviert hatten. Dort war Hesperia, im Augenblick ruhig, doch bald von Stauborkanen umtobt, die von der Sonnenwärme angefacht wurden: eine Ebene, weiter als ein Meer, und ebenso einsam. Das erste Licht der Sonne streifte soeben die Gipfel der Tharsis-Vulkane, während die Mary Poppins darüber hinwegjagte. Der erste war Olympus Mons, größer als die Marsmonde, gesäumt von Felsen und mit einem Krater, größer als ein Land. Er war so hoch, daß sein Gipfel eine Stunde lang bereits von Tageslicht erhellt war, bevor die Sonnenstrahlen die unteren Hänge streiften. Dann kamen die Hügelschwestern im Osten: Pavonis, Acraeus, Arsia, die selbst im Hochsommer mit Dioxidschnee bedeckt waren.
Die Mary Poppins flog so schnell nach Osten, daß die sich nach Westen bewegende Morgendämmerung beinahe stillzustehen schien. Der Osthang des Tharsis-Massivs war vom Terminator, der immer noch hundertfünfzig Kilometer östlich verlief, halb beleuchtet. Zerrissene Wolken fegten aus der Schlucht und den Hang hinauf, getrieben durch das, was die Marsmeteorologen als ›Wind des Morgengrauens‹ bezeichneten. Am östlichen Ende der Valles Marineris, über viertausendfünfhundert Kilometer entfernt, war es beinahe Mittag, und die sich ausdehnende heiße Luft trieb die kalte Luft mit einer Geschwindigkeit von hundertsechzig Kilometern in der Stunde nach Westen.
Da lagen die Dünenfelder am Kopf des Candar Chasma, wo die Ziolkowski landen sollte: rosafarben im ersten Licht der Morgendämmerung. Jeffries stellte das Teleskop an seinem Sitz superscharf und entdeckte die gedrungene Form der Agnew in den Dünen. Während im Osten, unten in der Schlucht…
Er glaubte, ein aufblitzendes Licht zu sehen. Er drehte am Teleskop, konnte jedoch nichts finden. Dann hielt er das Teleskop still, schloß ein Auge und ließ das andere mit der Flugbahn des Schiffes über den flachen Boden der Schlucht schweifen. Einzelne Nebelschwaden… ein oben abgeflachtes Tafelland… und in einer Spalte zwischen hohen roten Felsen… ein flackerndes Licht? Ein Glitzern von Metall im Sand? Was immer es auch gewesen sein mochte, es war verschwunden. Wahrscheinlich hatte ihm nur das Morgenlicht einen Streich gespielt, während die Mary Poppins der Morgendämmerung entgegenraste.
Jeffries reckte sich und sah auf seinen Kontrollanzeiger: sechs Uhr vier, Candor-Zeit. Die anderen schliefen vermutlich noch. Er zögerte, seinen Beobachtungsposten zu verlassen, doch andererseits drängte es ihn – und das erstaunte ihn, denn im allgemeinen duldete er seine
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