Mars Trilogie 1 - Roter Mars
Schleusentür von Rover Eins geöffnet, als sie im Ohr die Stimme Anns hörte: »Oh, Nadia, kommst du schon herein?«
Nadia blickte auf. Ann war auf dem Grat der Düne im Westen und winkte ihr zu, eine schwarze Silhouette vor einem blutroten Himmel.
»Das hatte ich vor«, sagte Nadia.
»Komm nur für eine Minute hier herauf! Ich möchte, daß du diesen Sonnenuntergang siehst. Er verspricht schön zu werden. Komm nur, es wird nur eine Minute dauern, und du wirst dich freuen, daß du es getan hast. Im Westen gibt es Wolken.«
Nadia seufzte und machte die äußere Schleusentür wieder zu.
Die Ostseite der Düne war steil. Nadia trat vorsichtig in die Fußstapfen, die Ann beim Aufstieg gemacht hatte. Der Sand war hier dicht gepackt und hielt meistens fest. Nahe dem Kamm wurde es steiler, und sie lehnte sich vor und grub mit den Fingern. Dann kletterte sie auf den breiten runden Grat, konnte sich aufrichten und umschauen.
Nur die Kämme der höchsten Dünen lagen noch im Sonnenschein. Die Welt war eine schwarze Fläche, die durch kurze sichelförmige stahlgraue Kurven verunstaltet war. Der Horizont war ungefähr fünf Kilometer entfernt. Ann hatte sich gebückt, ein Gefäß mit Sand in der Hand.
»Woraus besteht er?« fragte Nadia.
»Dunkle feste mineralische Partikel.«
Nadia knurrte: »Das hätte ich dir vorher sagen können.«
»Ehe wir hierhergekommen sind, hättest du das nicht gekonnt. Es hätte Grus-Abrieb in Verbindung mit Salzen sein können. Aber statt dessen ist es Gestein.«
»Warum so dunkel?«
»Vulkanisch. Siehst du, auf der Erde besteht Sand meistens aus Quarz, weil es dort eine Menge Granit gibt. Aber auf dem Mars gibt es nicht viel Granit. Diese Körner sind wahrscheinlich vulkanische Silikate. Obsidian, Feuerstein, etwas Granat. Schön, nicht wahr?«
Sie hielt Nadia eine Handvoll Sand zum Betrachten hin. Natürlich vollkommen ernsthaft. Nadia sah sich durch ihre Visierscheibe das schwarze Material an und sagte: »Schön.«
Sie standen da und beobachteten den Sonnenuntergang. Ihre Schatten liefen direkt auf den Osthorizont zu. Der Himmel war dunkelrot und trübe, nur im Westen über der Sonne etwas heller. Die von Ann erwähnten Wolken waren hellgelbe Streifen sehr hoch am Himmel. Etwas in dem Sand nahm das Licht auf, und die Dünen waren deutlich purpurn. Die Sonne war ein kleiner goldener Knopf, und darüber leuchteten zwei Abendsterne: Venus und Erde.
Ann sagte leise: »Sie sind jetzt jeden Abend näher zusammengerückt. Die Konjunktion dürfte wirklich prächtig werden.«
Die Sonne berührte den Horizont, und die Dünenkämme wurden zu Schatten. Die kleine knopfartige Sonne sank unter die schwarze Linie im Westen. Jetzt war der Himmel eine kastanienbraune Kuppel. Die hohen Wolken hatten die Farbe von Leimkraut. Überall tauchten Sterne auf, und der braune Himmel verfärbte sich in ein lebhaftes dunkles Violett, eine metallene Farbe, die von den Dünenkämmen aufgenommen wurde, so daß es aussah, als lägen Halbmonde aus flüssiger Dämmerung über der schwarzen Ebene. Plötzlich fühlte Nadia, wie eine Brise durch ihr Nervensystem wirbelte, das Rückgrat herauf und durch die Haut hinauslief. Ihre Wangen kribbelten, und sie konnte ihr Rückenmark klopfen hören. Schönheit konnte einen erschauern lassen! Es war ein Schock, eine solche physische Reaktion auf Schönheit zu spüren, eine Erregung wie eine Art von Sex. Und dabei war diese Schönheit so absolut fremdartig. Nadia hatte sie vorher nie gesehen oder wirklich empfunden. Das wurde ihr jetzt bewußt. Sie hatte ihr Leben genossen, als wäre es ein zurechtgemachtes Sibirien gewesen, so daß sie tatsächlich in einer gewaltigen Analogie gelebt und alles in Formen ihrer Vergangenheit verstanden hatte. Aber jetzt stand sie unter einem hohen violetten Himmel auf der Oberfläche eines versteinerten schwarzen Ozeans. Alles neu, alles fremdartig. Es war unmöglich, dies mit irgend etwas zu vergleichen, das sie früher gesehen hatte. Und mit einemmal entwich die Vergangenheit aus ihrem Kopf, und sie drehte sich in Kreisen wie ein kleines Mädchen, das sich schwindlig machen will, ohne einen Gedanken im Kopf. Von ihrer Haut sickerte Gewicht nach innen; und sie fühlte sich nicht mehr hohl. Im Gegenteil fand sie sich äußerst massiv, kompakt, ausgeglichen. Ein kleiner denkender Felsblock, der wie ein Kreisel in Drehung versetzt wurde.
Sie rutschten die steile Vorderseite der Düne auf den Absätzen ihrer Stiefel hinunter. Unten angekommen
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