Mars-Trilogie 3 - Blauer Mars
Du mußtest das Wasser aus deinen Lungen entfernen. Sie sind damit recht gut fertig geworden. Für das Fieber und die Kälteschauer könnte auch das Biofeedback verantwortlich sein. Wirklich hohes Fieber ist gefährlich, das mußt du bedenken. Ich erinnere mich an die Zeit, als du in die Bäder kamst, nachdem du in den See gefallen warst. Du warst blau angelaufen. Jackie sprang gleich hinein - nein, vielleicht blieb sie stehen, um zuzusehen. Du hieltest mich und Hiroko an den Armen; und wir alle sahen, wie du wärmer wurdest. Wärmeerzeugung ohne Zittern; mit Zittern macht das jeder Mensch, aber du hast es willentlich gemacht, und noch dazu sehr kräftig. Ich hatte noch nie etwas Derartiges gesehen. Ich weiß immer noch nicht, wie du das gemacht hast. Du warst ein prächtiger Junge. Es gibt Menschen, die erschauern können, wenn sie wollen. Vielleicht ist das so ähnlich, nur innerlich. Das macht wirklich nichts aus. Du brauchst nicht einmal zu wissen, wie, sondern mußt es nur tun. Ob du es auch in der anderen Richtung machen kannst? Deine Temperatur senken? Mach einen Versuch! Du warst so ein prächtiger Junge.«
Der alte Mann langt hin und packt den jungen Mann am Handgelenk. Er hält es fest und drückt.
»Du pflegtest Fragen zu stellen. Du warst sehr wißbegierig und sehr nett. Du hast nicht aufgehört zu fragen: Warum, Sax, warum? Es hat Spaß gemacht, dir jedesmal zu antworten. Die Welt ist wie ein Baum. Von jedem Blatt kann man bis zu den Wurzeln zurückgehen. Ich bin sicher, daß Hiroko so empfunden hat. Sie hat mir das wahrscheinlich als erste erzählt. Höre, es war nicht schlecht, auf die Suche nach Hiroko zu gehen. Auch ich habe das getan. Und werde es wieder tun. Ich habe sie nämlich einmal gesehen, auf Daedalia. Sie half mir, als ich in einem Sturm fast verreckt bin. Sie hielt mein Handgelenk. Genau so wie ich es jetzt bei dir tue. Nirgal, sie lebt. Hiroko ist am Leben und irgendwo hier draußen. Du wirst sie eines Tages finden. Laß deinen inneren Thermostaten arbeiten, senke die Temperatur; und eines Tages wirst du sie finden...«
Der alte Mann läßt das Handgelenk los. Er kippt nach vorn, im Halbschlaf noch murmelnd. »Du hast immer gefragt: Warum, Sax warum?«
W enn der Mistral nicht geweht hätte, hätte er weinen können; denn absolut nichts sah noch wie früher aus. Er kam von Marseille in einen Bahnhof, der bei seiner Abreise nicht existiert hatte, nahe einer kleinen Stadt, die es damals nicht gegeben hatte, und die komplett in einer Gaudischen Zwiebelarchitektur gebaut war, die auch gewisse Rundungen nach Bogdanov zeigte. Darum wurde Michel an Christianopolis oder Hiranyagarbha nach deren Verschmelzung erinnert. Nein, nichts sah auch nur im geringsten vertraut aus. Das Land war eigenartig plattgewalzt, grün und seines Gesteins und jenes je ne sais quoi entblößt, das es zur Provence gemacht hatte. Er war seit 102 Jahren nicht mehr hier gewesen.
Über diese ganze ungewohnte Landschaft blies der Mistral vom Zentralmassiv herunter - kühl, trocken, aromatisch und elektrisch, durchsetzt von negativen Ionen, oder was es sonst auch war, das ihm seine charakteristische katabatische Frische verlieh. Der Mistral! Ganz gleich, wie es hier aussah, es mußte die Provence sein.
Einheimische von Praxis sprachen französisch mit ihm, aber er konnte sie kaum verstehen. Er mußte scharf hinhören und hoffte, daß seine heimatliche Zunge wiederkommen würde und daß die Franglaisation und Frarabisation, die er hörte, die Verhältnisse nicht allzu sehr verändert haben würden. Es war ihm peinlich, in seiner Muttersprache unsicher zu sein. Es war auch schockierend, daß die Academie Francaise nicht ihre Pflicht erfüllt und die Sprache im siebzehnten Jahrhundert eingefroren hatte, wie man es von ihr erwartet hatte. Eine junge Frau, die das Hilfspersonal von Praxis leitete, deutete an, daß sie eine Rundfahrt machen und die Region besichtigen könnten, zur neuen Küste hinuntergehen und sich alles ansehen.
»Fein!« sagte Michel.
Er verstand die Leute schon besser. Vielleicht lag es nur an den Akzenten der Provence. Er folgte ihnen bei einem Rundgang durch die konzentrischen Kreise der Gebäude und dann hinaus zu einem ganz gewöhnlichen Parkplatz. Die junge Frau half ihm auf den Beifahrersitz eines kleinen Wagens und setzte sich dann an der anderen Seite hinter das Lenkrad. Ihr Name war Sylvie. Sie war klein, attraktiv, schick und roch angenehm, so daß ihr seltsames Französisch Michel ständig
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