Mars-Trilogie 3 - Blauer Mars
in den neuen Siedlungen rings um das Becken, sondern auch durch sie selbst in ihrem Verhalten und ihren Ideen, die Art, wie Erde für sie bloß ein Wort war, und wie ihre eigene Generation alle ihre Interessen und Bemühungen absorbierte. Das war das erste Mal gewesen, daß Maya das Gefühl hatte, der Gegenwart zu entgleiten, hinein in die Geschichtsbücher. Nur intensivste Bemühung hatte es ihr ermöglicht, sich weiter in den Dingen des Augenblicks zu engagieren und auf jene Zeiten Einfluß zu nehmen. Es war eine der großen Perioden ihres Lebens gewesen, vielleicht die letzte große Periode ihres Lebens. Die Jahre danach waren wie ein Wildwasser im Gebirge des Südens gewesen, eine Wanderung durch Spalten und Gräben und dann ein jähes Versinken in einem unerwarteten Strudel.
Aber einmal, vor sechzig Jahren, hatte sie genau hier gestanden, unter der großen Brücke, welche die Straße von Klippe zu Klippe über die Mündung des Dao-Canyons führte, die berühmte Hell's-Gate-Brücke, wo die Stadt sich zu beiden Seiten des Flusses vor der See auf den steilen, von der Sonne bestrahlten Abhängen hinuntersenkte. Damals hatte es hier draußen nur Sand gegeben, bis auf ein am Horizont sichtbares Band aus Eis. Die Stadt war kleiner und schlichter gewesen, die Stufen der steinernen Straßentreppen roh und staubig. Jetzt waren sie durch die sich mühsam darauf hocharbeitenden Füße glatt und abgeschliffen. Der Staub war von den Jahren weggewaschen worden. Alles war sauber und hatte eine dunkle Patina. Es war jetzt ein schöner mediterraner Hafen, in den Schatten einer Brücke gefügt, welche die ganze Stadt zu einer Miniatur machte, wie etwas in einem gläsernen Briefbeschwerer oder eine Postkarte aus Portugal. Sehr schön in einem frühen herbstlichen Sonnenuntergang. Zum Westen hin beschattet und frisch, alles in Sepia, für den Moment in Bernsteinfarbe getaucht. Aber einst war sie diesen Weg mit einer lebhaften jungen Amazone gegangen, als sich eine ganze neue Welt auftat, der natürliche Mars, dem sie mit zum Leben verholfen hatte, während sie noch ein Teil von ihm war.
Die Sonne ging bei diesen Erinnerungen unter. Maya kehrte zum Praxishaus zurück, das noch unter der Brücke stand und deren letzte dahin führende Treppe so steil war wie eine Leiter. Während sie hinaufstieg und auf ihre Schenkel drückte, um nachzuhelfen, hatte Maya plötzlich einen überwältigenden Eindruck von deja vu. Sie hatte das schon einmal gemacht. Sie erklomm nicht nur diese Stufen, sondern tat das mit dem Gefühl, daß sie sie schon früher erstiegen hatte. Dabei empfand sie genau dasselbe wie bei einem noch früheren Besuch. Sie war ein wirksamer Teil der Welt gewesen.
Natürlich hatte sie zu den ersten Erforschern des Hellas-Beckens gehört, in den Jahren gleich nach Underhill. Das war ihr entfallen. Sie hatte geholfen, Lowpoint zu finden, und war dann umhergefahren und hatte das Becken erkundet, ehe das jemand anders getan hatte, vor allem Ann. Darum hatte sie sich später, als sie für Deep Waters arbeitete, ähnlich von der damaligen Szene distanziert gefühlt. »Mein Gott!« rief sie entsetzt. Schicht auf Schicht, Leben um Leben - sie hatte so lange gelebt! Das war irgendwie wie eine Reinkarnation oder ewige Wiederkehr.
Inmitten dieses Gefühls gab es einen kleinen Hoffnungskern. Damals in jenem ersten Gefühl des Entgleitens hatte sie ein neues Leben begonnen. Ja, sie war nach Odessa umgezogen und hatte der Revolution ihren Stempel eingedrückt, indem sie ihr durch harte Arbeit zum Erfolg verhalf und mit vielen Gedanken darüber, warum die Menschen die Veränderung fördern sollten und wie man Veränderungen machen könnte ohne die bitteren Rückschläge zu erleben. Dies war vielleicht schon Jahrzehnte her, schien aber immer wieder auf einen revolutionären Erfolg zurückzuschlagen, der das vernichtete, was daran gut war. Und es sah so aus, als hätte sie diese Bitternis wirklich vermeiden können.
Zumindest bis jetzt. Vielleicht wäre das der beste Weg, um zu durchschauen, was sich bei dieser Wahl abspielte. Irgendein unvermeidlicher Rückschlag. Vielleicht hatte sie nicht so viel Erfolg gehabt, wie sie dachte. Vielleicht hatte sie nur weniger drastisch versagt als Arkadij oder John oder Frank. Wer konnte da sicher sein? Es war so schwer zu sagen, was in der Geschichte wirklich geschah. Das war zu weit und zu unfertig. Es geschah überall so viel, daß alles mögliche an beliebiger Stelle passieren konnte. Kooperativen,
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