Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea
Jüngsten.«
Ich steckte mir eine neue Zigarette an. OubaOuba erzielte einen Treffer, der seine Kumpels sprachlos machte. Diese Jungen waren eine verdammt gute Mannschaft. Und ich konnte mich nicht entscheiden. Mir fehlte der Mut. Die Überzeugung, besser gesagt. Wie sah denn das aus, so bei den Leuten mit der Tür ins Haus zu fallen: »Guten Tag, ich heiße Fabio Montale. Ich bin gekommen, um den Jungen zu holen. Das hat jetzt schon zu lang gedauert. Du sei bloß still, deine Mutter macht sich schon genug Sorgen.« Nein, das konnte ich nicht tun. Ich würde die beiden mit zu mir nach Hause nehmen, dort sollten sie mit Gélou in Ruhe reden.
Ich bemerkte eine bekannte Gestalt. Serge. Ich erkannte ihn an seinem linkischen, fast kindlichen Gang. Er kam aus Block D4 direkt vor mir. Er schien abgenommen zu haben. Ein dicker Bart wucherte auf der unteren Gesichtshälfte. Er überquerte die Straße Richtung Parkplatz. Die Hände in den Taschen einer Jeansjacke. Gebeugte Schultern. Der gute Serge wirkte eher traurig.
Ich hatte ihn seit zwei Jahren nicht mehr gesehen. Ich dachte sog ar, er hätte Marseille verlassen. Nachdem er sich jahrelang für die Jugendlichen in den nördlichen Vierteln eingesetzt hatte, war er gefeuert worden. Daran war ich nicht ganz unschuldig. Wenn ich die Jungs wegen einer Dummheit einsammelte, rief ich ihn noch vor den Eltern aufs Kommissariat. Er klärte mich über ihre Familienver - hältnisse auf und gab mir Ratschläge. Die Jungs waren sein Leben. Deswegen hatte er sich für diese Arbeit entschieden. Weil er es leid war, die Jugendlichen im Loch enden zu sehen. Zunächst mal vertraute er ihnen. Mit diesem Glauben an die Menschheit, den manche Priester haben. Für meinen Geschmack war er ein wenig zu sehr Priester. Wir mochten uns, waren aber keine Freunde geworden. Wegen dieses Hangs zum Priesterlichen. Ich habe nie an das Gute im Menschen geglaubt. Nur an das Recht auf Chancen - gleichheit.
Meine Verbindung zu Serge gab Anlass zu Tratsch. Und meinen Chefs gefiel das überhaupt nicht. Ein Bulle und ein Sozialarbeiter! Wir mussten dafür zahlen. Serge kam es teuer zu stehen. Mit mir rechnete man etwas subtiler ab. Einen Beamten, dem erst vor wenigen Jahren auf eigenen Wunsch die nördlichen Viertel zugeteilt worden waren, feuerte man nicht so einfach. Man verringerte meine Mannschaft und entzog mir allmählich jede Verantwortung. Ich machte ohne Überzeugung weiter, weil ich nichts anderes gelernt hatte, als Bulle zu sein. Es mussten erst zu viele geliebte Menschen sterben, ehe die Abscheu die Oberhand gewann und mich erlöste.
Ich kam nicht mehr dazu, Serge zu fragen, was er dort zu suchen hatte. Ein schwarzer BMW mit verdunkelten Scheiben tauchte plötzlich aus dem Nichts auf. Er fuhr im Schritttempo, und so achtete Serge nicht darauf. Als er auf seiner Höhe war, erschien ein Arm im hinteren Fenster. Ein Arm mit einem Revolver in der Hand. Drei Schüsse aus nächster Nähe. Der BMW schwenkte herum und verschwand so schnell, wie er aufgetaucht war.
Serge sackte auf dem Asphalt zusammen. Tot, daran bestand kein Zweifel.
Die Schüsse hallten zwischen den Wohnblöcken wieder. Fenster wurden geöffnet. Die Jungs unterbrachen ihr Spiel, und der Ball rollte auf die Straße. Für einen Moment stand die Zeit still. Dann kamen sie von allen Seiten angerannt.
Ich lief zu Serge.
»Macht Platz«, schrie ich alle an, die sich um die Leiche scharten. Als ob Serge noch Platz und Luft brauchte.
Ich ging neben ihm in die Hocke. Eine Bewegung, die mir vertraut geworden war. Zu vertraut. Wie der Tod. Die Jahre vergingen, und alles, was ich machte, war ein Knie auf die Erde zu setzen, um mich über eine Leiche zu beugen. Scheiße! Das konnte nicht schon wieder losgehen, immer wieder von vorne. Warum war mein Weg mit Leichen gepflastert? Und warum waren es immer öfter Menschen, die ich kannte oder liebte? Manu und Ugo, die Freunde meiner Kindheit und Jugend. Leila, so schön und so jung, dass ich es nicht gewagt hatte, mit ihr zu leben. Und jetzt mein Kumpel Serge.
Der Tod ließ mich nicht mehr los, wie eine Art klebriges Pech, in das ich eines Tages getreten sein musste. Aber warum? Warum? Verfluchter Mist!
Serge hatte die Ladung voll in den Bauch bekommen. Großes Kaliber, eine 38er wahrscheinlich. Wie sie die Profis benutzen. Wo war der Idiot nur hineingeraten. Ich sah auf Block D4. Wo kam er her? Und warum? Wen immer er besuchen wollte, er würde nicht ans Fenster treten und sich zu erkennen
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