Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea
Elektroofen. Neben der Spüle das abgewaschene Geschirr einer Mahlzeit. Ein Teller, ein Glas, eine Gabel, ein Messer. Serge wohnte allein hier. Ich konnte mir auch schlecht vorstellen, dass er eine Freundin hierher einge - laden hätte. Hier musste man leben wollen. Überhaupt hatte Serge meines Wissens nie ein Mädchen gehabt. Vielleicht war er wirklich schwul.
Ich wusste nicht genau, was ich eigentlich suchte. Irgendeinen Hinweis dafür, wo er hineingeraten und warum er auf der Straße erschossen worden war. So recht glaubte ich nicht daran, aber es konnte nichts schaden, wenn ich es versuchte. Ich begann mit dem Schrank, darauf, darunter. Darin fand ich ein Jackett, einen Blouson, zwei Jeans. Nichts in den Taschen. Der Tisch hatte keine Schublade. Oben auflag ein geöffneter Brief, den steckte ich ein. Nichts unter dem Bett. Nichts unter der Matratze. Ich setzte mich und dachte nach. Es gab hier kein mögliches Versteck mehr.
Auf einem Stapel Zeitungen neben dem Bett lagen zwei Taschenbücher. Die große Meeresstille von Jean Giono und Die Signatur des Feuers von Bl aise Cendrars. Die Bücher hatte ich gelesen. Sie standen bei mir zu Hause. Ich blätterte sie durch. Keine Zettel. Keine Notizen. Ich legte sie wieder hin. Ein drittes Buch diesmal gebunden, gehörte nicht zu meinen Klassikern. Erlaubtes und Unerlaubtes im Islam von Youssef Qaradhawi. Ein Zeitungsausschnitt nahm Bezug auf eine Verfügung, die den Verkauf und die Verbreitung des Buches »wegen der eindeutig antiwestlichen Färbung und der darin enthaltenen Thesen, die im Gegensatz zu grundlegenden freiheitlichen Rechten und Werten stehen«, verboten hatte. Auch hier keine Notizen.
Ich stieß auf ein Kapitel mit dem Titel: »Was zu tun ist, wenn die Frau sich stolz und widerspenstig zeigt.« Das entlockte mir ein Lächeln, weil ich mir sagte, dass ich dort vielleicht lernen würde, wie ich mit Lole umgehen sollte, wenn sie eines Tages zurückkam. Aber konnte man das Leben zweier Menschen durch ein Gesetz bestimmen? Nur ein religiöser Fanatiker ‒ Mohammedaner, Christ oder Jude ‒ konnte auf so eine Idee kommen. In der Liebe glaubte ich nur an Freiheit und Vertrauen. Dadurch wurden meine Liebes - beziehungen allerdings nicht einfacher. Das hatte ich schon immer gewusst. Ich erlebte es jetzt.
Die Zeitungen waren vom Vortag. Le Provençal, Le Meridional, Libération, Le Monde, Le Canard enchaîné v on dieser Woche. Einige neuere Nummern der algerischen Tageszeitungen Liberté und El Watan. Und, schon überraschender, ein Stapel des Al Ansar, des heimlichen Bulletins der Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA). Unter den Zeitungen und in Sammelmappen mehrere Zeitungsausschnitte: »Der Prozess von Marrakesch: Ein Prozess vor dem Hintergrund der französischen Vorstädte«, »Noch nie da gewesene Razzia in fundamentalistischen Kreisen«, »Terrorismus ‒ wie die Islamisten in Frankreich rekrutieren«, »Die islamische Spinne webt ihr Netz in Europa«, »Islam: Widerstand gegen den Fundamentalismus«.
Diese Dinge, das Buch von Qaradhawi, die Ausgaben von der Liberté, El Watan und Al Ansar, waren vielleicht der Anfang einer Spur. Was hatte Serge nur getrieben, seit ich ihn aus den Augen verloren hatte? Journalismus? Eine Recherche über den Islam in Marseille? Er hatte sechs Mappen voller Zeitungsausschnitte. Ich erblickte eine Plastiktüte aus dem Supermarkt unter der Spüle und packte das Buch und den ganzen Papierkram hinein.
»Keine Bewegung!«, ertönte es hinter mir.
»Mach keinen Scheiß, Saadna, ich bins, Montale!« Ich hatte seine Stimme erkannt. Mir war überhaupt nicht nach einer Begegnung mit ihm zumute. De swegen war ich am Kanal entlang gegangen.
Das Licht im Raum ging an. Die einzige Glühbirne, die an einem Kabel von der Decke hing. Ein grelles, weißes, gnadenloses Licht. Die Hütte kam mir noch trostloser vor. Blinzelnd, mit meiner Plastiktüte in der Hand, drehte ich mich langsam um. Saadna hielt mich mit einem Jagdgewehr in Schach. Er machte einen Schritt mit seinem Hinkebein. Eine schlecht verheilte Kinderlähmung.
»Du bist am Kanal langgeschlichen, was?«, sagte er mit einem Lächeln, das nichts Gutes verhieß. »Wie ein Dieb. Hast du dich neuerdings auf Einbrüche spezialisiert, Fabio?«
»Keine Gefahr, dass ich hier reich werde«, sagte ich ironisch.
Saadna und ich verabscheuten uns offen. Er war der Urtyp des Zigeuners. Die Gadze, wie er die Nichtzigeuner nannte, waren alle dumme Säcke. Immer, wenn ein junger Zigeuner
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