Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea
als Ehefrau von Adrien Fabre. Ihr Leben als Mutter von Mathias. Ihren Sohn. »Mein eigener Sohn«, wie sie betont hatte.
Ich war nahe daran, ihr einen Haufen indiskreter Fragen zu stellen. Aber ich hielt mich ans Wesentliche. Wer ich war. Meine Verwandtschaft mit Gélou. Und ich erzählte ihr die Geschichte von Guitou und Naïma. Seine Flucht. Marseille. Was ich in der Zeitung gelesen hatte, und wie ich den Zusammenhang hergestellt hatte.
»Warum haben Sie der Polizei nichts gesagt?«
»Worüber?«
»Über Guitous Identität.«
»Die habe ich eben erst von Ihnen erfahren. Wir hatten keine Ah - nung.«
Ich konnte es nicht fassen. »Aber Mathias ... Er kannte ihn und ...«
»Mathias war nicht bei uns, als wir Sonntagabend zurückgekom men sind. Wir hatten ihn bei meinen Schwiegereltern in Aix abgesetzt. Er fängt dieses Ja hr mit dem Studium an und hatte n och einige Formalitäten zu erledigen.«
Das war glaubhaft, aber nicht überzeugend.
»Und« — die Ironie konnte ich mir nicht verkneifen — »Sie haben ihn natürlich nicht angerufen. Er weiß nichts von dem Drama, das hier stattgefunden hat und dass einer seiner Ferienfreunde hier er - mordet wurde?«
»Mein Mann hat ihn angerufen. Mathias hat geschworen, nieman - dem seinen Schlüssel geliehen zu haben.«
»Und Sie haben ihm geglaubt?«
Sie schüttelte ihre Haare zurück. Eine Geste, die Ernsthaftigkeit demonstrieren sollte. Das hatte ich inzwischen begriffen.
»Warum hätten wir ihm nicht glauben sollen, Monsieur Montale?«, fragte sie und neigte sich leicht zu mir herüber.
Ich stand zunehmend unter dem Einfluss ihres Charmes, und das machte mich nervös. »Weil Hocine Draoui Ihnen Bescheid gegeben hätte«, sagte ich härter, als ich wollte, »wenn jemand in Ihrer Woh - nung gewesen wäre. Das sagt Ihr Mann jedenfalls in der Zeitung.«
»Hocine ist tot«, sagte sie leise.
»Guitou auch!«, schrie ich, am Ende meiner Geduld. Es war Mittag. Ich musste noch mehr herausbekommen, bevor ich Loubet traf. »Wo kann ich telefonieren?«
»Mit wem?« Sie war aufgesprungen. Und sie stand mir gegenüber. Aufrecht, reglos. Sie wirkte größer, ihre Schultern breiter. Ich spürte ihren Atem auf meiner Brust.
»Mit Kommissar Loubet. Es ist Zeit, dass er von Guitous Identität erfährt. Ich weiß nicht, ob er Ihre Geschichte schlucken wird. Auf jeden Fall wird sie ihn in seiner Untersuchung weiterbringen.«
»Nein. Warten Sie.« Sie strich ihr Haar mit beiden Händen zurück. Sie schätzte mich ab. Zu allem bereit. Sogar, mir in die Arme zu fallen. Und darauf wollte ich ja eigentlich nicht hinaus.
»Sie haben wunderschöne Ohren«, hörte ich mich murmeln.
Sie lächelte. Ein fast unmerkliches Lächeln. Sie legte ihre Hand auf meinen Arm, und diesmal sprang der Funke über. Blitzartig Ihre Hand brannte.
»Bitte.«
Ich kam zu spät im Treize-Coins an . Loubet trank ein großes Glas Mauresque, Pastis mit Mandelgeschmack. Ange brachte mir einen Pastis, als er mich kommen sah. Schwer, seine Gewohnheiten zu ändern. Diese Kneipe hinter dem Polizeihauptquartier hatte mir jahrelang als Kantine gedient. Weit weg von den anderen Polizisten, die ihren Stammtisch in der Rue de l'Évêché oder an der Place des Cantons hatten. Dort, wo die Bedienung Liebesgesäusel gurrte, um Trinkgeld einzuheimsen.
Ange war nicht von der gesprächigen Sorte. Er rannte seinen Gästen nicht hinterher. Als die Raggagruppe IAM beschlossen hatte, den Clip zu ihrem neuen Album bei ihm zu drehen, hatte er nur be - merkt: »Ach! Was habt ihr bloß mit meiner Kneipe?« Eine Spur von Stolz klang dabei dennoch mit.
Er war ein Liebhaber der Geschichte. Der großen Geschichte. Et nahm alles, was er in die Finger bekommen konnte. Decaux, Castel - lot. Aber auch ein kunterbuntes Durcheinander von den Bouqui - nisten: Zévaes, Ferro, Rousset. Zwischen zwei Gläschen brachte er mich auf den neuesten Stand. Als ich das letzte Mal bei ihm vorbeigekommen war, hatte er mir detailliert die triumphale Ankunft Garibaldis im Hafen von Marseille am 7. Oktober 1870 geschildert. »Genau um zehn Uhr.« Beim dritten Pastis hatte ich gesagt, dass ich Geschichte nicht als die einzige Form des Schicksals betrachtete. Ich weiß bis heute nicht, was ich damit meinte, aber es scheint mir richtig zu sein. Er hatte mich verblüfft angesehen und nichts mehr gesagt.
»Wir haben dich erwartet«, sagte er und schob mir das Glas hin.
»Hast du einen guten Fang gemacht, Montale?«
»Nicht schlecht.«
»Wollt ihr
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