Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea
essen?«, fragte Ange dazwischen.
Loubet sah mich an.
»Später«, sagte ich matt.
Ich hatte keine große Lust, ins Leichenschauhaus zu gehen. Aber Loubet bestand darauf. Nur Mathias, Cue und ich wussten, dass der Tote wirklich Guitou war. Ich war nicht scharf darauf, Loubet von meiner Begegnung mit Cue zu berichten. Das hätte ihm g ar nicht gefallen, und außerdem wäre er überstürzt zu ihr gerannt. Ich hatte Cue versprochen, ihr Zeit zu lassen. Bis zum Nachmittag. Damit sie mit ihrem Mann und Mathias eine glaubhafte Lüge auftischen konnte. Das hatte ich versprochen. Es kann nichts schaden, hatte ich mir gesagt. Dennoch ein wenig beschämt, weil ich mich so leicht hatte verführen lassen. Aber ich bin nun mal empfänglich für die Schönheit der Frauen, das lässt sich nicht ändern.
Ich leerte mein Glas wie ein zum Tode Verurteilter.
Während meiner Karriere war ich nur dreimal im Leichenschauhaus gewesen. Die eisige Atmosphäre umfing mich gleich hinter der Empfangstür. Wir kamen aus der Sonne ins Neonlicht. Weiß, fahl. Feucht. Das war die Hölle. Der kalte, nackte Tod. Nicht nur hier. Auf dem Boden einer Gruft war es genauso, sogar im Sommer.
Ich vermied es, an diejenigen zu denken, die ich schon begraben hatte, die ich geliebt hatte. Als ich die erste Hand voll Erde auf den Sarg meines Vaters geworfen hatte, sagte ich mir: »So, jetzt bist du allein.« Seitdem hatte ich Schwierigkeiten mit den anderen. Sogar mit Carmen, meiner damaligen Freundin. Ich war schweigsam ge - worden. Weil ich nicht erklären konnte, dass der Abwesende plötzlich wichtiger für mich war als ihre Gegenwart. Ihre Liebe. Das war idiotisch. Mein Vater war tatsächlich ein richtiger Vater ge - wesen. Aber wie Fonfon oder Félix. Wie viele. Wie ich es auch ganz einfach und natürlich hätte sein können.
Was mich in Wahrheit aufrieb, war der Tod an sich. Ich war zu jung, als meine Mutter von uns ging. Als mein Vater starb, fraß sich der Tod zum ersten Mal in mein Bewusstsein und nagte seitdem an mir. Im Kopf, in den Knochen. Im Herzen. Der Nager führte sein zerstörerisches Werk immer weiter. Seit Leilas entsetzlichem Tod war mein Herz nur noch eine einzige Wunde, d ie nicht heilen wollte.
Ich konzentrierte meine Aufmerksamkeit auf eine Angestellte, die den Boden feudelte. Eine dicke Afrikanerin. Sie sah hoch, und ich lächelte ihr zu. Weil es letztendlich verdammt viel Mut kostete, dort zu arbeiten, »Wegen der 7 47 «, sagte Loubet und zeigte seine Kennmarke.
Die Tür öffnete sich mit einem metallischen Klicken. Die Leichenhalle war im Keller. Der typische Krankenhausgeruch schlug mir auf den Magen. Das gefilterte Tageslicht war genauso gelblich wie das Wischwasser der Putzfrau.
»Gehts?«, fragte Loubet.
»Geht schon«, sagte ich.
Guitou kam auf einem verchromten Wagen, den ein kleiner, glatzköpfiger Mann mit einer Kippe im Mundwinkel schob.
»Ist der für Sie?«
Loubet nickte. Der Typ stellte den Wagen vor uns ab und verschwand ohne ein weiteres Wort. Loubet hob das Laken langsam bis zum Hals. Ich hatte die Augen geschlossen. Ich holte tief Luft, dann sah ich Guitous Leiche schließlich an. Gelous geliebter Sohn.
Derselbe wie auf dem Foto. Aber sauber, blutleer und tiefgefroren glich er einem Engel. In freiem Fall aus dem Paradies auf die Erde gestürzt. Hatten Naïma und er Zeit, sich zu lieben? Cue hatte gesagt, dass sie Freitagabend angekommen waren. Sie hatte Hocine gegen zwanzig Uhr angerufen. Seitdem gingen mir pausenlos Fragen durch den Kopf: Wo konnte Naïma gewesen sein, als Guitou getötet wurde? Schon weg? Oder bei ihm? Und was hatte sie gesehen? Ich musste bis fünf Uhr warten, um vielleicht einige Antworten zu erhalten. Mourad sollte mich zum Großvater bringen.
Das war das Erste, was ich tat, nachdem ich Loubet angerufen hatte. Ich ging Na'imas Mutter besuchen. Es hatte ihr gar nicht gefallen, noch dazu so früh. Redouane hätte da sein können, und ihr war daran gelegen, ihn aus der Geschichte rauszuhalten. »Das Leben ist so schon kompliziert genug«, hatte sie gesagt. Ich war das Risiko eingegangen, denn mei ne Zeit war knapp. Es war mir w ichtig , Loubet einen Schritt voraus zu sein. Das war verrückt, aber ich wollte vor ihm Bescheid wissen.
Naïmas Mutter war eine gute Frau. Sie sorgte sich um ihre Kinder. Deshalb beschloss ich, ihr Angst einzuflößen.
»Naïma ist möglicherweise in eine schmutzige Geschichte verwickelt. Wegen diesem Jungen.«
»Der Franzose?«
»Der Sohn meiner
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