Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea
zugesehen, wie es in den Ring tropfte.
Der Ring war voller Blut.
Ich konnte meinen Blick nicht davon abwenden. Verflucht, Georges, dachte ich, wir haben uns noch nicht einmal die Zeit genommen, uns ein letztes Mal einen richtigen Kampf zu liefern!
»Montale.«
Hélène Pessayre legte ihre Hand auf meine Schulter. Die Wärme ihrer Handfläche strahlte durch meinen ganzen Körper. Das tat gut. Ich drehte mich zu ihr um. Aus ihren schwarzen Augen sprach ein Hauch von Traurigkeit und viel Wut.
»Wir haben miteinander zu reden.«
Sie sah sich um. Im Saal wimmelte es von Leuten. Ich hatte die beiden Flics aus ihrem Team erkannt. Alain Béraud hatte mir zugewinkt. Eine freundschaftlich gemeinte Geste.
»Da lang«, sagte ich und zeigte auf den kleinen Raum, der Mavros als Büro gedient hatte.
Sie hielt schnurstracks darauf zu. Sie trug heute Morgen meergrüne Jeans und ein großes, schwarzes T-Shirt, das ihr bis über die Oberschenkel reichte. »Heute muss sie bewaffnet sein«, dachte ich.
Sie öffnete die Tür und ließ mir den Vortritt. Hinter sich zog sie die Tür wieder zu. Für den Bruchteil einer Sekunde musterten wir uns. Wir waren fast gleich groß. Ihre Ohrfeige erwischte mich mitten im Gesicht, bevor ich auch nur eine Kippe hervorholen konnte. Überrascht von ihrer Heftigkeit, ließ ich mein Päckchen Zigaretten fallen. Ich bückte mich, um es aufzuheben. Vor ihren Füßen. Meine Wange brannte. Ich richtete mich wieder auf und sah sie an. Sie zuckte nicht mit der Wimper.
»Dazu hatte ich große Lust«, sagte sie kalt. Dann, im gleichen Ton: »Setzen Sie sich.«
Ich blieb stehen.
»Das ist meine erste Ohrfeige. Von einer Frau, meine ich.«
»Wenn Sie wollen, dass es die letzte war, erzählen Sie mir alles, Montale. Vor dem, was ich von Ihnen weiß, habe ich Achtung. Aber ich bin nicht Loubet. Ich kann meine Zeit nicht damit vergeuden, Ihnen zu folgen oder Hypothesen über die Dinge aufzustellen, die Sie wissen. Ich will die Wahrheit. Wie ich Ihnen gestern gesagt habe, graut mir vor der Lüge.«
»Und dass Sie mir nicht verzeihen würden, wenn ich Sie belüge.«
»Ich geb Ihnen eine zweite Chance.«
Zwei Tote, zwei Chancen. Die letzte. Wie ein letztes Leben. Unsere Blicke begegneten sich. Noch herrschte kein Krieg zwischen ihr und mir.
»Da«, sagte ich.
Und ich legte die fünf Disketten von Babette auf den Tisch. Den ersten Satz Kopien, den Cyril mir am Abend gemacht hatte. Er hatte darauf bestanden. In der Zwischenzeit spielten Sébastien und die anderen mir die neuen Marseiller Rap-Gruppen vor. Meine Kenntnisse endeten bei IAM und Massilia Sound System. Ich hinkte hinterher, wie es schien.
Sie spielten mir die Fonky Family vor, junge Leute aus dem Panier und Belsunce – die bei den Bad Boys aus Marseille mitgemacht hatten –und die Band Troisième Œil, die direkt den nördlichen Vierteln entsprungen war. Rap war wahrhaftig nicht mein Ding, aber ich war immer wieder verblüfft, was er zu erzählen hatte. Die treffsicheren Worte. Die Qualität der Texte. Sie sangen von nichts anderem als dem Leben ihrer Kumpel auf der Straße oder im Knast. Auch davon, wie leicht es sich starb. Und von den Jugendlichen, die in der Psychiatrie endeten. Eine Wirklichkeit, mit der ich jahrelang zu tun gehabt hatte.
»Was ist das?«, fragte Hélène Pessayre, ohne die Disketten anzu - rühren.
»Die Anthologie der Aktivitäten der Mafia auf dem neuesten Stand. Genug, um von Marseille bis Nizza alles hochgehen zu lassen.«
»So weit«, antwortete sie bewusst ungläubig.
»So weit, dass es Ihnen schwer fallen wird, wenn Sie sie gelesen haben, sich danach im Polizeihauptquartier in den Fluren aufzuhalten. Sie werden sich fragen, we r Ihnen in den Rücken schießen wird.«
»Stecken Polizisten mit drin?«
Sie ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Ich weiß nicht, woher sie die Kraft nahm, aber nichts schien sie erschüttern zu können. Wie Loubet. Das Gegenteil von mir. Vielleicht war es mir deshalb nie gelungen, ein guter Flic zu werden. Ich war zu empfindlich.
»Da stecken jede Menge Leute mit drin. Politiker, Industrielle, Unternehmer. Sie können ihre Namen lesen, wie viel sie kassiert haben, in welcher Bank sie ihre Kohle deponiert haben, die Konto - nummer. All das. Was die Flics betrifft ...«
Sie hatte sich hingesetzt, und ich tat es ihr nach.
»Bieten Sie mir eine Zigarette an?«
Ich reichte ihr meine Packung und Feuer. Sie legte ihre Hand leicht auf meine, damit ich mit dem Feuerzeug näher
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