Marseille Trilogie - Total Cheops, Chourmo, Solea
aus Prinzip. Manu hatte keine Prinzipien mehr. Das Gute war das, was er haben konnte. Das Schlechte, was er nicht haben konnte. So kann man nicht leben.«
Ich packte Pullover, Decken und die Flasche Lagavulin ein. Ich nahm Lole an der Hand und führte sie zum Boot. Ich ruderte am Damm vorbei, dann ließ ich den Motor an und nahm Kurs auf die Frioul-Inseln. Lole setzte sich zwischen meine Beine, ihren Kopf an meiner Brust. Wir reichten uns die Flasche, Zigaretten. Schweigend. Marseille kam näher. Ich ließ Pomègues, Raton neaux und das Château d'If an Backbord liegen und hielt geradeaus auf die Fahrrinne zu.
Hinter dem Damm Sainte-Marie, unter dem Leuchtturm, machte ich den Motor aus und ließ das Boot treiben. Wir hatten uns in die Decken gewickelt. Meine Hand ruhte auf Loles Bauch. Direkt auf ihrer Haut, weich und heiß.
So offenbart sich Marseille. Vom Meer aus. So wie ein Phäake es vor Jahrhunderten an einem Morgen entdeckt haben musste. Mit dem gleichen Entzücken. Port of Massilia. Ich kannte dort ein glückliches Paar, hätte ein Marseiller Homer schreiben können, der an Gyptis und Protis erinnerte. Der Seefahrer und die Prinzessin. Hinter den Hügeln ging die Sonne auf. Lole murmelte:
Oh, Zug von Zigeunern.
Nach dem Glanz unserer Haare richte dich ...
Eines von Leilas Lieblingsgedichten.
Alle waren eingeladen. Unsere Freunde, unsere Geliebten. Lole legte ihre Hand auf meine. Die Stadt war wie in Glut getaucht. Erst weiß, dann gelblich und rosa.
Eine Stadt nach unserem Herzen.
Chourmo
F ü r Isabelle und Gennaro,
ganz einfach meine Mutter und mein Vater
Es sind schmutzige Zeiten, das ist alles.
Rudolph Wurlitzer
In Gedenken an Ibrahim Ali,
ermordet von Plakatklebern
des Front National
am 24. Februar 1995
in den nördlichen Vorstädten
von Marseille.
Prolog
Endstation, Marseille,
Bahnhof Saint-Charles
Guitou – wie seine Mutter ihn immer noch nannte – stand oben an der T rep pe vor dem Bahnhof Saint-Charles und betrachtete M a r - seille. »Die große Stadt«. Seine Mutter war hier zur Welt ge kom-m en, aber sie war nie mit ihm hergefahren. Dabei hatte sie es versprochen. Jetzt war er hier. Allein. Wie ein Großer.
In zwei Stunden würde er Naïma wiedersehen.
Deshalb war er hier.
Die Hände in den Taschen seiner Jeans vergraben und eine Camel zwischen den Lippen, stieg er langsam die Stufen hinunter. Der Stadt entgegen.
»Wenn du die Treppen runtergehst, kommst du auf den Boulevard d'Athènes«, hatte Naïma gesagt. »Du folgst ihm bis zur Canebière. Dort gehst du rechts. Richtung Alter Hafen. Wenn du da bist, findest du etwa zweihundert Meter weiter, wiederum rechts, eine große Eckkneipe. Sie heißt La Samaritaine. Dort treffen wir uns. Um sechs. Du kannst sie nicht verfehlen.«
Diese zwei Stunden, die vor ihm lagen, beruhigten ihn. Er würde die Kneipe ausfindig machen. Pünktlich sein. Naïma wollte er nicht warten lassen. Er hatte es eilig, sie wieder zu sehen. Ihre Hand zu nehmen, sie in seine Arme zu schließen, sie zu küssen. Heute Abend würden sie miteinander schlafen. Zum ersten Mal. Das erste Mal für sie und für ihn. Mathias, ein Klassenkamerad Naïma s, hatte ihnen sein Appartement überlassen. Sie würden ganz allein sein. Endlich.
B ei dem Gedanken musste er lächeln. Schüchtern, wie bei seiner ersten Begegnung mit Naïma.
D ann zog er ein Gesicht, als ihm seine Mutter einfiel. Wenn er zurückkäme, würde er mit Sicherheit eine unangenehme Viertelstunde über sich ergehen lassen müssen. Nicht nur, dass er ohne Erl aubnis drei Tage vor Schulbeginn abgehauen war, vorher hatte er auch noch tausend Francs aus der Ladenkasse stibitzt. Einer Bou - tique für Konfektionskleidung im Ortszentrum von Gap, alles hoch - modisch und elegant.
Er zuckte mit den Schultern. Es waren nicht die tausend Francs, die den Familienfrieden gefährdeten. Mit seiner Mutter würde er schon klarkommen. Wie immer. Aber der andere machte ihm Kopf - schmerzen. Der Obertrottel, der sich für seinen Vater hielt. Er hatte ihn schon einmal wegen Naïma geschlagen.
Als er die Allée de Meilhan überquerte, sah er eine Telefonzelle. Er sagte sich, dass er seine Mutter doch besser anrufen sollte, damit sie sich keine Sorgen machte.
Er stellte seinen kleinen Rucksack ab und griff in die Gesäßtasche seiner Jeans. Verdammt! Da war keine Brieftasche mehr! Entsetzt fühlte er auf der anderen Seite und sogar in der Innentasche seiner Jacke nach, obwohl er sie dort nie aufbewahrte. Nichts.
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