Marsha Mellow
ich an, während er angespannt mitten im Wohnzimmer steht. »Ich habe auch Milch«, füge ich einfältig hinzu, als wäre es eine besondere Leistung, ein Milchprodukt im Haus zu haben.
»Später vielleicht. Lassen Sie uns zuerst reden.«
Er steht nach wie vor unbeweglich in der Mitte des Raums und spricht in einem sehr geschäftsmäßigen Ton von Chef zur Angestellten. Das sieht nicht gut aus, Ant.
Ich setze mich auf mein Sofa.
Er bleibt stehen.
Das sieht sogar gar nicht gut aus.
»Dafür, dass Sie vor kurzem an Windpocken erkrankt sind, sehen Sie erstaunlich gut aus«, bemerkt er.
»Ich habe keine Windpocken«, entgegne ich - immerhin eine Lüge weniger von mehreren Dutzend.
»Ich weiß«, erwidert er. »Das war bloß eine billige Ausrede, um das mit Ihrer Mutter zu vertuschen. Unter diesen Umständen verständlich. Hören Sie, die Sache mit Ihrer Mutter... Möchten Sie darüber sprechen?«
Zum ersten Mal, seit er die Wohnung betreten hat, hat seine Stimme einen warmen Klang angenommen... zwar nicht warm wie ein Kaminfeuer, aber definitiv über null Grad.
»Ah... nein ...«, stammle ich, »ich meine ja ... Gott... ähm ... also meine Mutter ...«
Was hat es bloß mit diesem Stottern auf sich? Als würde ich an einem Sprachfehler leiden, der sich bemerkbar macht, sobald Lewis sich mir auf dreieinhalb Meter nähert. Könnte es sein, dass ich auf ihn allergisch reagiere? Wie auch immer. Muss jedenfalls dagegen angehen.
»Also Ihre Mutter?«, wiederholt Lewis fragend. »Möchten Sie mir vielleicht erzählen, weshalb man sie verhaftet hat? Mein Schwager ist nämlich Rechtsanwalt - spezialisiert auf Aktienrecht. Ich kann Ihnen anbieten, dass ich ihn mal...«
»Es ... äh ... ist nicht so«, unterbreche ich stotternd, um auf den Boden der Tatsachen zu finden.
»Was ist nicht so?«, fragt Lewis. »Ist sie nicht verhaftet worden?«
»Doch, sie sitzt in Haft.«
»Was hat sie denn nun verbrochen?«, fragt Lewis mit leicht verwirrtem Gesichtsausdruck. »Welches Delikt hat sie begangen? Deedee sagte was von Insider-Geschäften -«
»Meine Mutter hat in ihrem ganzen Leben keine einzige Aktie besessen«, unterbreche ich ihn erneut. Und zwar mit einem vollständigen, zusammenhängenden Satz - der zudem nicht gelogen war. Aber er schaut immer noch verständnislos drein.
»Augenblick, wenn sie nichts mit Aktien am Hut hat, warum hat man sie dann wegen Insider-Geschäften verhaftet?«, entgegnet er fragend mit derart tiefer Stirnfalte, dass ich mir sehr gut vorstellen kann, wie er einmal mit siebzig aussieht.
»Das stimmt so nicht«, sage ich.
»Aber eben haben Sie noch gesagt, dass sie in Haft sitzt.«
Er spricht jetzt lauter. Da versuche ich verzweifelt, Ants brillanten Plan nicht aus den Augen zu verlieren, und bewirke damit lediglich, dass er mich anschreit.
»Das stimmt auch, sie sitzt in Haft«, erwidere ich ungewollt ebenfalls lauter. »Aber man hat sie nicht wegen Insider-Geschäften verhaftet.«
Im Nu löst sich die Stirnfalte in Nichts auf, sodass mir bewusst wird, wo mein Denkfehler lag. Ich hatte ein kleines, aber entscheidendes Detail vergessen.
»Gut, und weswegen ist sie nun verhaftet worden?«, meint er. Scheiße. Jetzt kommt der schwere Part - die Stunde der nackten Wahrheit.
»Wegen Sachbeschädigung durch Graffiti«, antworte ich leise.
»Wie bitte? Wie alt ist denn Ihre Mutter?« »Fast sechzig.«
»Mein Gott. Und welches Objekt? Eine Bushaltestelle? Ein Bahnwaggon?«
»Ein Kirchenportal«, sage ich mit immer leiser werdender Stimme.
»Ist sie eine Art Anarchistin?«
»Nicht wirklich ... sie ist... ähm ... sogar stellvertretende Vorsitzende der Konservativen in der Ortsgruppe Finchley.«
Dies scheint ihn förmlich umzuhauen, zumal er sich plötzlich mir gegenüber in den Sessel plumpsen lässt. »Das ist eine lange Geschichte«, sage ich.
»Kein Problem. Deedee hat meine restlichen Termine für heute abgesagt.«
11.49 Uhr: »Lassen Sie mich das noch einmal rekapitulieren«, sagt Lewis. »Ihr Freund Ant - der Mann, den ich kurz an der Strippe hatte, nicht?«
Ich nicke. So weit stimmt alles, was er sagt. »Er ist Priester und schwul«, sagt Lewis weiter.
»Nein.«
»Dann ist er doch nicht schwul? Ach ja, richtig, Sie erwähnten ja, dass Sie ihn mit einer Frau im Bett erwischt haben. Also ein Priester, der auf das Zölibat pfeift.«
»Nein, er ist kein Priester. Aber er ist wirklich schwul. Das mit der Frau war nur ein einmaliges Experiment. Glaube ich jedenfalls.«
»Und Ihre
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