Marter: Thriller (German Edition)
ermordet worden sein, doch gab es keinen Hinweis darauf, dass das etwas mit den Informationen zu tun haben sollte, die sie sich von Holly erhofft hatte.
Wieder schüttelte sie den Kopf. Jetzt hör endlich auf, wie ein Verschwörungstheoretiker zu denken , ermahnte sie sich selbst.
18
Ricci Castiglione blieb zögernd auf den Stufen zur Kirche von San Giacomo Apostolo in Chioggia stehen. Im Inneren war es düster und still, die Luft roch würzig nach Kerzenwachs und Weihrauch. Er tauchte die Finger in den Weihwasserkessel an der Tür, bekreuzigte sich und eilte durch das Kirchenschiff, verfolgt vom Echo seiner Schritte, in eine Seitenkapelle.
Dutzende und Aberdutzende von Madonnenstatuen blickten aus unterschiedlichen Höhen auf ihn herab. Touristen betrachteten dies in der Regel als künstlerisches Zeichen der Verehrung der Jungfrau Maria, doch handelte es sich in diesem Fall um eine ganz andere Madonna: nämlich um die Madonna della Navicella, die Stella Maris oder »Stern des Meeres«, deren Abbild auf wundersame Weise auf Baumstämmen und Booten erschien, die aus den Tiefen der Lagune angespült wurden. Sie war, das wussten die Fischer, eine weit ältere und mächtigere Gottheit als die Mutter Christi. Neben ihren Ebenbildern gab es viele kleine Opfergaben des Dankes von denjenigen, die sie aus den Wellen gerettet hatte.
Ricci stand einen Moment lang nur mit gebeugtem Haupt da und mühte sich, in Worte zu fassen, was er ihr zu sagen hatte.
Dieses Mal bin ich zu weit gegangen. Doch es war nicht meine Schuld. Schuld hatte der Amerikaner.
Als er sich abwandte, begegnete sein Blick dem des alten Priesters, der geduldig in dem Beichtstuhl auf der anderen Seite des Gangs saß. »Keine Besucher heute, Pater?«, rief er ihm zu, und er gab alles, um tapferer zu klingen, als er sich fühlte.
Es war das Schweigen der alten Krähe, das ihn einknicken ließ. Ricci hatte in seinem Leben schon viele schlimme Dinge getan. Einst hatte er das Boot eines Fischers in Brand gesetzt, der sein ärgster Konkurrent war. Bei diversen Gelegenheiten hatte er seine Frau mit Prostituierten betrogen, die man ihm im Gegenzug für gewisse Dienste kostenlos zur Verfügung gestellt hatte. Im Zorn hatte er einen Mann niedergestochen, und er war immer noch der Überzeugung, dass es die Stella Maris gewesen war, die dafür gesorgt hatte, dass der Mann nicht starb – ein lebendes Opfer konnte mit Drohungen zum Schweigen gebracht werden, ein Toter aber hätte ihm mit Sicherheit die Polizei auf den Hals gehetzt.
Die Schmuggelei und die anderen Botendienste, die er so übernahm, wertete er hingegen nicht als Sünden – sie waren die Missetaten von jemand anders; er schaffte die Waren lediglich von A nach B. Aber diese Sache mit der Frau, die als Priesterin verkleidet war, rief in ihm ein ungutes Gefühl hervor, das er nicht abschütteln konnte. Das Ganze war falsch – das spürte er, und zwar nicht allein in Form der bleiernen Übelkeit, die sich in seinem Magen festgefressen hatte. Jede seiner Krebsfallen war während der ganzen Woche leer geblieben. Und nun hatte er erfahren, dass zwei Beamte der Carabinieri sich unter den Fischern der Gegend umhörten. Wenn der Amerikaner sich doch bloß bei ihm erkundigt hätte, wo er die Leiche entsorgen sollte, statt sie einfach so über Bord zu werfen!
Das Böse hatte sich ihm an die Fersen geheftet, und zwar in Form des Gräuels, der auf den Stufen zu La Salute angespült worden war. Von hier aus war es nur noch ein winziger Schritt, bis er in einem der unerklärlichen Stürme ertrinken würde, die bisweilen wie aus dem Nichts in der Lagune auftraten. Die Madonna della Navicella – sie war weiblich: Sie würde eine derartige Entweihung auf ihrem Terrain nicht dulden.
Wie so viele von den Fischern hatte Ricci nie das Schwimmen gelernt, und seine Beziehung zum Meer war vergleichbar mit der Situation eines Mannes, der auf einem Vulkan lebte: Tief in seinem Inneren wusste der, dass es nur eine Frage der Zeit war, ehe er ihn vernichten würde.
Er blickte sich um, niemand sonst war zu sehen. Schnell huschte er zu der kleinen Kabine, zog den Vorhang zu und murmelte in Richtung des Gesichts, das hinter dem Gitter verborgen war: » Mi benedica, Padre, perchè ho peccato.«
Segne mich, Vater, denn ich habe gesündigt.
19
Es war schon fast Mittag, als Kat zum Campo San Zaccaria zurückkehrte.
»Wie lief es mit der Amerikanerin?«, erkundigte Piola sich.
»Nicht sonderlich hilfreich. Hat aber auch nichts
Weitere Kostenlose Bücher