Martha im Gepaeck
Karens Vorstellung während der letzten untätig verbrachten Stunde auf immer schrecklichere Weise mutiert: Teresa, die auf Eisenbahnschienen »entlangspazierte«; Martha, die wie ein blindes Huhn im schlimmsten Verkehr über die Hauptstraße »spazierte«; Mark, der mit jugendlichem Unverstand geradewegs in die Fänge von kriminellen Gangs »spazierte«.
»Komm, wir gehen wieder«, wollte Karen gerade sagen, doch in diesem Moment öffnete sich die Tür zum Behandlungszimmer. Alle Anwesenden hoben in demütiger Erwartung ihre Köpfe.
»Mr Theemee?«, sagte die pausbäckige Schwester.
Die Köpfe sackten wieder herunter und widmeten sich den bunten Zeitschriften, während Bernd und Karen wie von der Tarantel gestochen aufsprangen.
»Ach, der tollwütige Deutsche!«, rief GP Collins erfreut. Es handelte sich um einen stämmigen älteren Mann mit Glatze und Schnurrbart, der jetzt wie eine fröhliche Robbe hinter seinem Schreibtisch hervorglitt. »Das haben wir gleich, machen Sie sich keine Sorgen. Kommen Sie erst mal her, ich will Ihnen was zeigen.« Er winkte Bernd und Karen näher und begab sich zu einem Eckschrank, den er behutsam öffnete. »Gladys kennt ihn ja schon, aber die weiß ihn nicht zu schätzen. Aber Sie bestimmt.«
»Wie bitte?«, fragte Karen perplex. Wer oder was war Gladys? Wovon redete der Mann? Dr. Collins holte etwas aus dem Schrank. Langsam und vorsichtig. Im ersten Moment dachte Karen entsetzt, der Mann wolle ihnen einen in Spiritus eingelegten Fötus im Glas vorführen, doch dann erkannte sie, dass es sich lediglich um einen großen elfenbeinfarbenen Bierhumpen handelte.
»Ist der nicht schön? Habe ich selbst 1993 beim Oktoberfest gekauft.« Dr. Collins betrachtete den Krug verliebt und stellte ihn auf dem Tisch ab.
»Sehr schön«, stimmte Karen ihm vorsichtig zu. »Wir hatten auch mal so einen.« Waren sie hier richtig? Das war doch der Arzt, oder etwa nicht? Sie sah zu Bernd, damit er endlich den Mund aufmachte. Er stand jedoch nur da und streckte automatisch die Hand nach dem Bierhumpen aus. Als Karen sich räusperte, ließ er die Hand schnell sinken.
»Das war wenigstens ein richtiges Fest«, sagte der Doktor. »Die Japaner haben ja gar nichts vertragen. Aber wir Engländer … Was ist denn, Gladys?« Irritiert wandte er sich der pausbäckigen Schwester zu. Das war also Gladys.
Gladys stand ungeduldig neben Dr. Collins, eine Patientenakte und einen Kugelschreiber in der Hand. Die Sonne schien durch das offene Fenster herein auf ihr luftiges Haargebilde, in dem feuerrote Strähnchen wie Ausrufezeichen aufblitzten. Sie nickte unmerklich mit dem Kopf in Bernds Richtung. »Soll ich ihn wiegen?«
»Ach, das wird nicht nötig sein. Wie viel wiegen Sie denn,
Mr Thieme?«
Karen konnte sehen, dass Bernd leicht rot anlief. Nichts war ihm unangenehmer, als über sein Gewicht zu reden. Jedes Jahr zu Silvester erging er sich in Phantasien, wie er abnehmen, und Marathon laufend, Rad fahrend, kletternd und kraulend das neue Jahr bewältigen würde. Meistens endeten diese spektakulären Ankündigungen Ende Januar, wenn er versuchte, sich mehrere Hundert Euro für die noch ungetragenen Laufschuhe mit abfedernden Luftkammern rückerstatten zu lassen. Seine völlige Selbstüberschätzung war unbegreiflich.
»… zig Kilo«, murmelte Bernd. »Ungefähr.«
»Was? Wie viel?«, fragte Gladys ungnädig.
»Neunzig Kilo wiegt er meistens«, sagte Karen laut und deutlich. Eigentlich waren es fast hundert, aber jetzt tat er ihr doch leid. Diese Gladys stand da wie ein Feldwebel mit ihrem Stift in der Hand.
»Ach, Kilos«, sagte Dr. Collins enttäuscht. »Damit haben wir es ja nicht so. Ich bewundere vieles auf dem Kontinent, aber damit können die mir gestohlen bleiben. Und jetzt haben sie auch noch in unserem schönen England damit angefangen. Na gut, Gladys – wiegen Sie ihn doch mal schnell.«
»Ich …«, versuchte Bernd sich zu melden, aber Gladys schnitt ihm das Wort ab.
»Steigen Sie bitte mal auf die Waage dort.« Sie deutete auf ein schweres gusseisernes Ungetüm in der Ecke.
Bernd schlich vor den Augen aller Anwesenden zu der schrecklichen Waage wie zum Schafott.
»Glauben Sie uns etwa nicht?«, wandte sich Karen an die unbarmherzige Sprechstundenhilfe. Diese Frau regte sie langsam auf.
»Sechsundneunzig Kilo«, verkündete Gladys. Sie lächelte triumphierend.
»Ich trage ja noch meinen schweren Gürtel«, wehrte sich Bernd.
»Genau«, sagte Karen. Musste diese Person denn so
Weitere Kostenlose Bücher