Martha im Gepaeck
die meisten Männer so, das musste man leider sagen. Der Ex von Bettina war ebenfalls nur glücklich, wenn er ein Stück gebratenes Fleisch auf seinem Teller liegen hatte. Außer Mike. Der ernährte sich von Sushi, Salat, Proteinriegeln und betonartigen Shakes. Daher sein Waschbrettbauch, den Karen natürlich nur durch seinen Anzug hindurch erahnen konnte. Dauernd ging er ins Fitnessstudio. Manchmal vergaß er, etwas zu essen. Wie konnte man so etwas vergessen? Irgendwie war das auch nicht normal.
»Noch 300 Meilen bis Edinburgh«, sagte Bernd. Karen nickte. In Edinburgh erwartete sie ihr nächstes Hotel, und davon würde sie auch Martha nicht abbringen. Es war ihr Urlaub.
Bernd räusperte sich. Dann legte er plötzlich los: » I wandered lonely as a cloud … «
»Wie bitte?« Karen schreckte aus ihren Gedanken auf.
»Robert Burns. Der Dichter. Bin draufgekommen, wegen Edinburgh. Du weißt schon.« Er holte erneut Luft. » I wandered lonely as a cl… «
»Ist es schlimm, alt zu sein, Tante Martha?«, unterbrach Teresa den poetischen Moment.
»Aber nein, Kind, wie kommst du denn darauf?«
»Mama und Papa haben gesagt: ›Oh Gott, Altwerden ist so furchtbar.‹«
Karen krallte sich alarmiert an ihrer Handtasche fest. Neben ihr neigte Bernd leicht den Kopf zur Seite. Er sah sie fragend an.
»Haben sie das?« Martha klang amüsiert. »Na so was. Aber das stimmt nicht. Altwerden ist nicht furchtbar.«
»Nein?« Teresa schlenkerte ihr Schlafschwein herum. »Seht ihr.«
»Natürlich hat das Alter seine Tücken«, fuhr Martha fort. »Das schon. Aber weißt du, solange man oben und unten noch dicht ist, lässt sich das alles ertragen.«
Karen zuckte zusammen. Was war das eben? » Welcome Break «, rief sie laut, und Bernd bog in letzter Sekunde nach links zur Raststätte ab.
12 Scotland . Es stand groß und fett auf einem Schild neben dem kolossalen Grenzstein. Scotland . Karen reckte sich und drehte den Kopf wie einen Kreisel, bis es angenehm im Hals knackte. Sie hatten es geschafft. Es war nicht zu fassen. Und die Außentemperatur war auf 22 Grad gesunken. Es grenzte an ein Wunder.
»Na, wer sagt es denn.« Bernd streckte sich ebenfalls. Karen sah nach hinten. Dort hatten die Kinder und Martha in den letzten Stunden eine Landschaft aus zerfetzten Chipstüten, Bonbonpapierchen, Ausmalheften und Erfrischungstüchern geschaffen, garniert mit zusammengequetschten Jacken, die als Kopfkissen benutzt wurden. Mark hatte die Augen geschlossen und sich per Kopfhörer mal wieder in eine Welt versetzt, in der, wenn man den piepsenden Klangproben Glauben schenken konnte, offenbar jemand gleichzeitig mit Geschirr schmiss, ermordet wurde, Bassgitarre spielte und dazu trommelte. Martha atmete tief und gleichmäßig, den Kopf auf der Brust, die Handtasche fest umklammert.
»Aufwachen, Martha. Wir sind da.«
Direkt neben ihnen hielt jetzt ein Reisebus. Überhaupt war der ganze Parkplatz voller Menschen. Es gab einen Imbissstand, der Pommes und Cola verkaufte, ein Klo mit langer Schlange davor und eine Souvenirbude.
Die Thiemes schraubten sich verschlafen aus dem Van. Martha und Teresa liefen sofort zur Toilette, Mark und Bernd machten sich ohne zu zögern in Richtung Pommes auf. Plötzlich war Karen allein. Sie sah sich um. Direkt vor dem großen Grenzstein stand ein Dudelsackspieler, gerade im Begriff loszulegen. Ein paar Japaner standen vor ihm und hielten ihre Videokameras hoch. Karen stellte sich dazu. Der Mann trug einen rotgrün karierten Kilt, ein Käppi, weiße Kniestrümpfe und ein seltsames kleines Fellbeutelchen, das ihm vor den Lenden herumbaumelte. Was war da drin? Noch ehe Karen weiter darüber nachgrübeln konnte, blies der Mann in sein Instrument. Das Geräusch eines gequälten, asthmakranken Tieres schallte über den Platz. Die Japaner klatschten begeistert. Der Mann holte noch einmal Luft und setzte erneut an. Diesmal erklang eine Melodie, schaurig und schön zugleich, ein Klang, der selbst hier auf diesem überfüllten Parkplatz Bilder von Schlachtfeldern, Hochmooren und einsamen Hügeln hervorrief. Karen stellte zu ihrer Überraschung fest, dass sie Gänsehaut bekam. Normalerweise begeisterte sie sich nicht gerade für folkloristische Klänge, egal, aus welchem Land sie kamen. Eine Weile lang hatte sie eine peruanische Phase durchgemacht, wie wohl so ziemlich jeder, den sie kannte. So bunt und fremd und aufregend waren die dunkelhaarigen Musiker gewesen, als sie damals in ihren gemusterten Ponchos
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