Martha im Gepaeck
verdrehte die Augen. Es war zwecklos. Bettina würde nie kapieren, dass Familienurlaube völlig anders abliefen als gelegentliche Wochenendtrips mit schneidigen jungen Männern.
»Wir sind gerade bei einem Festival.«
»Rockfestival? Toll. Wer spielt? Wer immer es ist, bring mir ein Autogramm, hörst du? Egal – ich ruf dich nur an, weil Mike deine private Handynummer wissen wollte. Er wollte dich irgendwas fragen. Dringend. Ich hab sie ihm gegeben, das war doch okay, oder?«
Karen schwieg überrascht. Mike wollte ihre Handynummer? Dringend? Ein Kribbeln setzte irgendwo in ihrem Bauch ein. Wenn er sie sogar im Urlaub kontaktieren wollte, das konnte doch nur eins bedeuten.
»Bist du noch dran? Das knackt so«, schrie Bettina am anderen Ende. »War das okay?«
»Ja, kein Problem«, stammelte Karen.
»Alles klar. Muss jetzt los, treffe mich heute mit Raul.«
»Raul?«
Ein Kichern voller Vorfreude. »Hab ich bei der Wellness kennengelernt. Mein Masseur.«
»Viel Spaß«, murmelte Karen, aber Bettina legte schon auf. Mike wollte ihre Handynummer. Was wollte er? Ihre Urlaubsfotos sehen? Wohl kaum. Oder? Sollte sie schnell ein Foto von sich selbst in diesem rasiermesserscharfen Kleid knipsen? Nein, wenn man das selbst machte, wurde das Foto meist verschwommen oder Nase und Kinn kamen unnatürlich groß raus. Mark. Mark musste das machen.
Zurück in der Cockburn Street, blieb sie stehen. Stutzte. Mark saß immer noch auf der Mauer. Martha war nirgends zu sehen.
»Wo ist Martha?«
Mark sah sich erstaunt um. »Nicht da.«
»Das sehe ich selbst. Wo ist sie hin?«
»Bei Papa ist sie nicht. Die sind ein Eis holen.« Mark deutete auf Bernd, der ein Stück weiter weg mit Teresa an einer Eisbude anstand.
Ein unangenehmes Rauschen setzte in Karens Kopf ein. Vergessen waren das Foto und Mike mit seinem mysteriösen Handynummernwunsch. »Mark, du musst doch wissen, wo Martha hin ist. Was hat sie denn gesagt?«
Mark kratzte sich am Kopf. »Da war dieser Typ«, sagte er plötzlich. »Der hat gemeint: ›Dixie, bist du das etwa?‹«
»Dixie? Was?«
»Ich glaube, er hat Martha gekannt.«
»Und dann?«
»Dann habe ich Tommy gesimst. Da muss sie wohl weggegangen sein.«
Karen starrte ihren Sohn an – dieses unaufmerksame, verpennte Geschöpf, nie richtig da, nie richtig angezogen, immer halb online und mit seinen vierzehn Jahren zu dämlich, um auf eine achtzigjährige Frau aufzupassen. Es war einfach nicht zu ertragen.
»Wer war der Typ? Wie sah er aus? Und wieso Dixie? Hat er sie mit jemandem verwechselt?« Ein schrecklicher Gedanke schoss Karen durch den Kopf. Was, wenn der unbekannte Mann ein von Dwayne gesandter Häscher war? Wenn er sie aufgespürt hatte und das Geld wiederhaben wollte? Geld, das Martha gar nicht mehr hatte, weil ein Großteil davon an Karens eigenem Körper herumflatterte?
»Mark.« Sie packte ihren Sohn an den Schultern. »Wo ist sie hin? Was hat sie gesagt?«
»Mann, ey. Schrei mich doch nicht so an«, wehrte sich Mark. »Martha hat total recht, ihr behandelt mich wie ein Baby. Das hat sie gesagt, wenn du’s genau wissen willst. Sie hat gesagt: ›Mark, deine Eltern denken, du bist noch ein Kleinkind, aber du kommst hier schon alleine klar.‹« Er funkelte seine Mutter unter einer langen Haarsträhne, die ihm immer wieder über das linke Auge fiel, wütend an. »Wahrscheinlich wollte sie einfach mal ihre Ruhe vor euch haben.«
»Blödsinn. Sie hat keinerlei Transportmittel. Ihre Augentropfen sind im Hotel. Was hat sie gesagt? Du kommst hier schon alleine klar? Und wer ist Dixie?« Karens Kopf drohte zu zerspringen. War Martha ihr abgehauen? Aber warum? Gerade hatte sie geglaubt, in Martha eine ganz unerwartete Freundin gefunden zu haben. Oder hatte sie jemand mitgenommen, der offenbar genauso verwirrt war wie sie? Jemand, der glaubte, eine gewisse Dixie vor sich zu haben? Was hatte das zu bedeuten? Karen drehte sich zu Bernd um. »Martha ist weg.«
16 »Und nun?« Karen sah von Sohn zu Mann. »Was machen wir denn jetzt?«
»Die kommt schon wieder«, meinte Mark.
»Ach ja? Mit oder ohne Handtasche? Oder sollte ich lieber sagen – tot oder lebendig?«
»Nun bleib mal ganz ruhig«, sagte Bernd. Allerdings sah er selbst erschrocken aus. »Bis jetzt hat sie sich doch immer ziemlich gut zurechtgefunden. Besser als wir.«
»Bernd«, Karen bemühte sich um eine geduldige Stimme, »es geht nicht darum, dass sie sich vielleicht verläuft. Ich weiß, dass sie nicht auf den Kopf gefallen
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