Martha im Gepaeck
alleine betreten hätte. Schon gar nicht mit Bernd im Schlepptau.
»Hier?«, fragte sie verblüfft.
»Hier«, sagte Martha mit Bestimmtheit. »Und keine T-Shirts. Ein Kleid. Mir rollen sich die Fußnägel hoch, wenn ich heutzutage Frauen in diesen Trainingsanzügen und T-Shirts rumlaufen sehe. Zu einer Frau gehört ein Kleid. Keine Widerrede.«
»Okay, okay«, sagte Karen. Etwas hatte sich verändert. Seit dem Restaurant. Nein, seit dem Pokerspiel. Eigentlich schon seit dem erschlagenen Reh. Martha war nicht die, für die Karen sie ihr Leben lang gehalten hatte. Kein schrulliges altes Mütterchen mit einer langen Liste von Krankheiten und einer noch längeren Liste von toten Verwandten und altertümlichen Ratschlägen. Aber was war sie dann? Ein schottisches Clanmitglied? Wohl kaum. Karen wusste keine Antwort auf ihre Frage. Daher ließ sie sich einfach treiben – eingelullt vom Geruch nach Leder und Stoff und von gelegentlichen Parfümwolken aus der Kosmetikabteilung – und folgte Martha, die mit ihren energischen kleinen Schritten vorantrippelte.
Zwei Stunden später hatten sie es geschafft. Karen hatte mehrere Tüten in der Hand und das Gefühl, unter Drogen zu stehen. Als graue Büromaus war sie heute Morgen losgezogen, als Femme fatale kam sie zurück. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie sich das letzte Mal so gut gefühlt hatte. Einkaufen war Therapie, da konnten die Leute sagen, was sie wollten. Dort kam schon Bernd mit den Kindern. Er sah ein bisschen fertig aus, wahrscheinlich vom Rollercoaster. Hoffentlich kippte er jetzt nicht um, wenn er sah, was sie gekauft hatte. Noch im Laufen riss sie das Preisschild ab.
»Bernd, das Kleid hier, das musst du einfach sehen. Das ist der Wahnsinn!« Sie öffnete rasch die dunkelblaue Tüte und holte das schwarzbunte Gewirr aus Spitze und raschelnder Seide heraus, zu dem Martha sie letztendlich überredet hatte. Wer hätte gedacht, dass Marthas exzentrischer Geschmack Karen zu so einem tollen Fund verhelfen würde? Karen hielt das Kleid am Arm hoch. »Was sagst du dazu?«
»Oha«, machte Bernd. Er betrachtete das Kleid erstaunt. »Wann willst du das denn anziehen?«
»Hübsch, nicht?« Martha stieß ihn unmerklich an.
Bernd nickte. Vorsichtig griff er nach dem dünnen Stoff, als ob er einen exotischen Schmetterling berühre.
»Ich wollte sie überreden, dass sie es gleich anbehält, aber sie wollte nicht.«
Karen strich über die Spitze. »Na ja, das ist kein Kleid für jeden Tag. Mehr was für besondere Anlässe.«
»Wie viel …«, setzte Bernd an, aber Martha kam ihm zuvor.
»Hab ich deiner Frau spendiert«, sagte sie. »Und für welchen besonderen Anlass willst du das aufheben, Karen? Für den Elternabend in der Schule? Oder die Betriebsweihnachtsfeier, wenn es draußen 10 Grad minus hat?«
»Du könntest es im Urlaub anziehen«, meinte Bernd.
»Hm«, machte Karen. »Also jetzt, meinst du?« Sie wandte sich an Martha. »Meinst du das auch? Ach, Mensch – wahrscheinlich habt ihr recht. Auf der Arbeit kann ich das nicht anziehen. Da fliegen den Kunden in der Bank die Überweisungsformulare aus der Hand.« So gern ich es auch täte, fügte sie in Gedanken hinzu. Schon wegen Mike. Man muss doch zeigen, was man hat. Wo hatte sie das neulich gehört? Karen ließ ihren Blick durch die Gegend wandern. Dahinten … »Wisst ihr was«, sagte sie, »ich mach das jetzt einfach. Ich ziehe mich um. Dahinten sind Dixi-Klos.«
»Das machst du richtig.« Martha sah äußerst zufrieden aus.
Karen lief zielstrebig auf die hellblauen Toilettenhäuschen zu. Sie hatte Glück, eines war frei, und es standen gerade keine Leute davor. Gleich darauf wusste sie auch, warum. Die Tür ließ sich nicht verriegeln. »Mist«, murmelte sie. Bernd musste ihr helfen. Sie streckte den Kopf raus. »Bernd, komm doch mal schnell!« Sie winkte ihm zu und wartete, bis er sich durch die Massen zu ihr vorgearbeitet hatte.
»Kannst du die Tür bewachen? Die geht immer wieder auf. Bitte.«
Bernd schob die Tür von außen zu. Sie ging sofort wieder auf.
»Siehst du. Die ist kaputt. Drück doch mal von außen dagegen, während ich mich umziehe.«
»Also, Karen, wie sieht denn das aus, wenn ich von außen dagegendrücke? Als ob ich dich eingesperrt habe und nicht mehr rauslassen will.«
Sie öffnete die Tür einen Spaltbreit. »Ja, was sollen wir denn sonst machen? Ich stell mich doch nicht in Unterwäsche in die Princes Street Gardens.«
»Zeig mal her.« Bernd quetschte sich
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