Martha im Gepaeck
lebt. Ist er nicht auch wahnsinnig tief? Das habe ich irgendwo gelesen.«
»Ich geh mal hier runter pinkeln«, verkündete Mark. Er schlurfte zu einem kleinen Weg, der offenbar zum See hinunterführte und vom Gestrüpp fast zugewuchert war.
»Sei vorsichtig«, rief Karen automatisch, aber Mark drehte sich nicht mal um. Vorbei war die Zeit, wo sie seine Hand halten musste, falls da unten ein Monster saß. Heutzutage würde er das Monster fotografieren und die Rechte an Disney verkaufen, oder an Apple, Google oder Gott weiß wen.
»Lass ihn.« Bernd winkte ab. »Schwimmen kann er ja.« Er schoss ein paar Fotos und packte die Kamera wieder ein.
»Können wir Nessie bitte mal herbeizaubern?«, bettelte Teresa. »Bitte, Tante Martha. Bitte.«
»Na, ich werde mein Bestes versuchen.« Tante Martha räusperte sich, hob ihren Schirm hoch und richtete dessen Spitze auf den See. »Dudelsack und Schottenrock – Nessie komm zu diesem Stock!«
Karen unterdrückte ein Lachen, das kurz in ihr aufstieg. Teresa sah gebannt auf das Wasser. Bernd gähnte.
»Na, wahrscheinlich schläft Nessie gerade«, sagte Karen. Es war kurz vor fünf. In einer Stunde waren sie am Ziel.
»Mama!«, schrie Teresa plötzlich aufgeregt. »Sieh doch nur!« Sie rannte blitzartig los.
»Vorsicht!«, brüllte Karen. »Martha, Bernd, haltet sie fest!«
Aber weder Martha noch Bernd taten dergleichen.
»Es ist Nessie!«, rief Teresa. »Komm her, Mama, da unten ist Nessie!«
»Was?« Karen lief ein paar Schritte zum Geländer der Aussichtsplattform und sah auf den See hinunter. Dort schwamm etwas. Ein dunkles, großes Tier mit langem Hals. Eine Art Saurier. Karen schloss kurz die Augen. »Bernd«, sagte sie tonlos.
»Hier.« Unbemerkt war er neben sie getreten.
»Siehst du das auch?«
Er nickte stumm.
»Nessie«, jubelte Teresa. Tante Martha schob sie mit der Spitze ihres Schirmes ein Stückchen zurück.
»Das ist doch ’ne Attrappe.« Mark war auf einmal wieder aufgetaucht. Er quetschte sich neben seinen Vater und kniff die Augen zusammen. Das Geschöpf – Nessie? – glitt ohne Eile durch den See in Richtung der weißen Lieferwagen. Dort rannten Leute aufgeregt herum und wedelten mit den Händen.
»Es bewegt sich aber«, sagte Bernd. Und in der Tat hob und senkte das seltsame Wesen bedächtig den Kopf.
»Das ist ferngesteuert. Da unten habe ich gesehen, dass dort einer mit ’ner Kamera steht«, sagte Mark. »Dort bei den weißen Autos. Die filmen das. Warum glaubt ihr mir nur nicht? Nie glaubt ihr mir!«
»Natürlich ist da jemand mit einer Kamera. So was muss man doch aufnehmen«, sagte Bernd.
Karen sagte gar nichts. Sie wusste nicht, was.
»Nein, eine Filmkamera«, beharrte Mark. »Die drehen hier wahrscheinlich einen Film.«
»Unsinn.« Tante Martha hielt Teresas Hand fest und drückte sie beruhigend. »Das ist echt.«
»Mama? Du glaubst das doch nicht, oder? Gib mir mein Handy zurück, ich zoome ran, und dann siehst du, dass das nur eine Attrappe ist.«
Karen reagierte nicht, sie sah hinunter auf das Wasser. Waren sie allesamt verrückt geworden? Oder war das nur eine Luftspiegelung? Plötzlich verschwand das Wesen aus ihrem Blickfeld. Karen merkte, dass sie die ganze Zeit die Luft angehalten hatte. Hatten sie eben tatsächlich das berühmte Ungeheuer gesehen? Oder nur eine Attrappe, wie Mark behauptete? Auf jeden Fall war da Martha mit ihrem Schirm, ihren Zaubertricks und ihren schottischen Clanfreunden. Irgendwie war in den letzten Tagen die Beständigkeit von Karens Welt ins Wanken geraten. Und diese Teenager, die wussten doch eh immer alles besser. Die brauchten ab und zu mal Grenzen.
»Aber sicher«, sagte sie daher mit fester Stimme. »Das war Nessie. Da gibt es gar keinen Zweifel.«
»Nessie«, flüsterte Teresa hingerissen.
»Wieso kann ich mein Handy nicht haben? Das ist total gemein. Das wäre so ein geiles Foto geworden«, schimpfte Mark im Hintergrund, aber Karen hörte nur halb hin. Sie stand ganz still, um diesen Moment zu genießen. Die großen Augen von Teresa, den Anblick der kleinen alten Frau, die auf seltsame Weise für all das verantwortlich war, die herrliche Aussicht auf den See, die Erinnerung an dieses mystische Tier von eben – ob es nun echt war oder nicht – und vor allem Bernd, der sich jetzt zu Teresa runterbeugte und sagte: »Siehst du – Nessie lebt. Ich hab’s doch gewusst.« Dann sah er zu ihr und hatte diesen verschmitzten Blick drauf wie vor siebzehn Jahren, als sie sich
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